Kapitel 7
Kapitel 7
Weitere Erlebnisse des jungen Katers Rosaurus.
Wer jetzt das Thierlein liebt,
Wird einst auch Menschen lieben,
Wer jetzt das Thierlein quält,
Wird Menschen einst betrüben.
Als Rosaurus an das Ende der Straße gelangt war, hielt er im raschen Laufe an, um wieder zu Athem zu kommen; er setzte sich auf einen Prallstein, um die unbekannte Straße und seine eigene Lage besser zu überschauen. Ach! er war in eine ganz fremde Welt gerathen, in welcher er sich nicht zurecht finden konnte. Fremde Menschen gingen an ihm vorüber, ohne ihn eines Blickes zu würdigen; ach! wie fühlte Rosaurus sich unglücklich und verlassen. Plötzlich aber schien sein Schicksal sich aufzuklären; zwei kleine wohlgekleidete Mädchen kamen daher, begleitet von ihrer Bonne. Sie hatten große Arbeitstaschen und schienen in die Schule gehen zu wollen. Rosaurus erkannte Lisi und Amelie, seine beiden Freundinnen, und hoffte, die Stunde seiner Erlösung habe geschlagen. Er sprang hinunter vom Prallsteine und eilte auf die Kinder zu, sich mit einem ausdrucksvollen Katzenbuckel an Lisi anschmiegend und ihr zwischen die Füße laufend. Die Kinder blieben stehen.
"Ach! das niedliche Kätzchen," sagte Amelie, "das sieht doch gerade aus, wie der Rosaurus der Prinzessin."
Lisi. Wie käme dieser aber hierher? der schlummert wahrscheinlich noch in seiner Wiege, oder frühstückt Milch und Bisquit, während dieses arme Thierchen hier ziemlich hungrig zu sein scheint.
Amelie. Könnten wir es doch mitnehmen, das Kätzchen sieht uns an, als wolle es unseren Schutz anflehen, es hat gewiß seinen Herrn und seine Heimath verloren.
"O!" sagte die Bonne, "es gehört wahrscheinlich in eins der benachbarten Häuser, man wird es bald suchen und wir würden einen Diebstahl begehen, wenn wir es mit uns nehmen wollten." Lisi meinte auch, daß sie doch unmöglich ein Kätzchen mit in die Schule bringen könnten, und schlug vor, dem armen Thiere etwas zu fressen zu geben und nach beendeter Schule wieder an dieser Stelle vorüber 50 zu gehen, um es mitzunehmen, wenn es noch immer so verlassen, einsam und unglücklich sein sollte.
Die Kinder brockten zufolge dieses Beschlusses, den auch die Bonne billigte, etwas Bisquit und Semmel auf einen reinlichen Stein der Straßenecke, wünschten dem Kätzchen guten Appetit und gingen von dannen.
Da Rosaurus wirklich großen Hunger hatte und ihm kein Mittel zu Gebote stand, sich seinen Freundinnen zu erkennen zu geben, indem sie die Katzenbuckel-Sprache doch nicht so ganz deutlich zu verstehen schienen, stürzte er sich gefräßig über das Bisquit her, indem er sorgfältig die Semmelbrocken liegen ließ. Er sollte indeß, noch ehe er die Mahlzeit vollendet hatte, gestört werden; denn er vernahm aus der Ferne ein furchtbares Donnern und Krachen, und meinte einen Augenblick, die ganze Welt gehe unter; sein Gemüth beruhigte sich nicht, als er die Veranlassung dieses Geräusches erblickte. Es kam nämlich ein Ungeheuer die Straße entlang gesaust; war es ein Thier? war es etwas Anderes? Es hatte vier glänzende Augen, acht Beine, und noch außerdem vier Räder, welche den ungeheuren Lärm verursachten. Später erfuhr Rosaurus wohl, daß es eine Kutsche mit zwei Rädern sei, aber damals war er ja gar zu unerfahren in der Welt. Als das Ungethüm sich auf ihn zu bewegte, ergriff er die Flucht; er wähnte sich verfolgt, weil die Kutsche denselben Weg einschlug, wie er, und so lief und lief er denn, bis er in eine Seitenstraße 51 gerieth, wo der gefährliche Feind vorüber fuhr. So hatte Rosaurus in der wilden Flucht sich weit entfernt von der Stelle, wo Lisi und Amelie ihn wieder zu finden gedachten. Rosaurus sollte aber bald noch andere Gefahren kennen lernen.
Ein vierbeiniges Geschöpf ließ sich nämlich am äußersten Ende der Straße erblicken. Rosaurus dachte sich gleich, daß dasselbe ein Hund sei, obgleich es keineswegs dem Joly glich, es war gewiß viermal größer als Joly, hatte ganz schwarzes gelocktes Haar, lange herunterhängende Ohren und kleine schwarze Augen, welche unter dichten Haarbüscheln hervorglänzten.
Als der Pudel Kartusch den Rosaurus erblickte, stutzte er einen Augenblick und legte durch ein kurzes abgebrochenes Gebell seine katzenfeindlichen Gesinnungen an den Tag. Rosaurus war unschlüssig über seinen Vertheidigungsplan. Konnte er hoffen, mit seinen zarten Krallen dem großen Hund Ehrfurcht einzuflößen, wie dem kleinen Joly? Gewiß nicht! Ihm erschien also die Flucht das gerathenste zu sein. Ach, er wußte nicht, wie schnell Kartusch laufen konnte! Kartusch hatte großen Respekt vor den Krallen der Katzen, aber gar keinen vor ihren Schwanz, und als er letzteren sich zugewendet sah, verfolgte er mit freudigem Bellen das arme geängstete Thier. Rosaurus hörte sein Schnaufen und Knurren, sein drohendes Gebell immer näher rücken, immer mehr schwand der Raum zwischen ihm und seinem Verfolger; er fühlte schon den heißen Athem des Pudels und glaubte auch schon dessen Zähne zu fühlen da ersah er einen Baum noch ein Mal strengte er seine schwindenden Kräfte an und sprang hinauf bloß ein kleines Stück seines Schwänzchens blieb in Kartusch"s Zähnen zurück; das that zwar weh, es blutete, aber sein kostbares Leben war doch gerettet. Rosaurus blickte hohnlächelnd und pustend herab auf den wüthend bellenden Kartusch, der sich gar nicht darüber zufrieden geben konnte, daß seine Beute ihm entrissen war. Endlich wurde Kartusch durch einen Pfiff seines Herrn abgerufen.
"O, hätte der doch eher gepfiffen," seufzte Rosaurus, indem er seinen blutenden Schwanz leckte.
O welch ein Unglück! dieser Schwanz, sein Stolz, seine Freude; dieses Glied seines Körpers, welches dem Kater eine Aehnlichkeit mit den Kometen des Himmels giebt, es war verstümmelt; Rosaurus war auf ewig geschändet! Er überließ sich ganz seinem Schmerz und brach in laute Klagen aus.
Diese Klagen vernahm eine muntere Knabenschaar, welche so eben aus der Schule kam. Das ist der Augenblick, wo die Kinder am übermüthigsten zu sein pflegen. Sie nahmen Steine und warfen nach dem armen schreienden Thier. Rosaurus flüchtete immer höher in die dichtesten Zweige des Baumes; er zog sich hinter die verschlungendsten Aeste zurück und suchte sich zu schützen gegen das Wurf-Material, welches von allen Seiten in seiner Nähe einschlug, entweder vorbeiflog oder an den schützenden Zweigen abprallte. Ein kühner Knabe entschloß sich, an dem Baum hinauf zu klettern; alle jubelten über diesen Entschluß; der Steinregen war zu Ende und die Jugend blickte neugierig und mit reger Theilnahme dem Kletternden nach; Rosaurus hatte sonach eine neue Gefahr zu fürchten. Der kletternde Knabe mußte sich an die innern Baumäste halten, wo Rosaurus von den Steinen hingetrieben war, so daß letzterer sich genöthigt sah, seine Zufluchtsstätte zu verlassen und die äußersten Spitzen der höchsten Aeste aufzusuchen. Rosaurus war sehr leicht, ihn trug das dünnste Zweigelchen; die Vögel flohen erschreckt aus den Wipfeln des Baums, indem sie ein ängstliches Piep Piep ausstießen, und Rosaurus verspürte in diesem Augenblick einiges Gelüste nach dem Vogelspiel, er mußte aber diese strafbaren Gedanken unterdrücken wegen der eigenen Gefahr, welche auch wirklich mit jeder Minute stieg; denn als der Knabe auf dem Baum nicht Rosaurus selbst packen konnte, ergriff er den Ast, auf dessen äußersten Spitzen das arme geängstete Thier saß und schüttelte denselben so stark, daß er sich nicht länger darauf halten konnte. Rosaurus stürzte aus der schwindelnden Höhe herab, unter lautem Freudenruf der Schuljugend.
Jedes andere unbeflügelte Thier würde unstreitig den Hals gebrochen haben; aber die Katzen haben die große Geschicklichkeit, immer auf den Beinen zur Erde zu gelangen; das war auch jetzt der Fall mit Rosaurus. Seine Füße waren freilich geprellt und hätten der Ruhe und Pflege auf weichem Bettchen bedurft; aber unter dieser blutdürstigen Umgebung konnte er nicht weilen er mußte wieder zu schneller Flucht greifen und unter neuem Steinregen davon laufen. Als er endlich sich sicher glaubte, fühlte er sich von einer kleinen aber kräftigen Hand gepackt und eine wohlbekannte Stimme rief. "Du bist mein," und steckte Rosaurus unter seinen Rock.
Es war niemand anders als Wilhelm, welcher aus der Schule kam und, in der Hoffnung, dem Löwen zwei Braten, d. h. zwei Kätzchen, bringen zu können, die ganze Verfolgung des armen Thiers geleitet hatte.
Es gab indeß großen Spektakel zu Haus, als Wilhelm Rosaurus Flucht entdeckte und in dem armen abgehetzten, verstümmelten Kätzchen sein Eigenthum erkannte. Hannchen wurde von ihm geschimpft, geschlagen und gekneipt, bis Dorte ihr zu Hülfe kam.
Am Nachmittag sah Wilhelm indeß ganz anders aus, als am Morgen, denn er hatte sich sorgsam gewaschen und gekämmt, eine wohlgeflickte Sonntagsjacke angethan, die verschossenen Hosen stramm gezogen, die Strümpfe in die Höh gebunden und die Schuhe geschwärzt. "Jetzt," sagte er, "bin ich ein schmucker Mensch und ich glaube, der Löwe würde mich verspeißen, wenn er könnte; ich bin ganz geeignet, um ihm Appetit einzuflößen." Rosaurus wurde nun in die Rocktasche gesteckt und so gings zum Vogelschießen.
Man zog gerade den großen hölzernen Vogel unter Musik und Kanonenschüssen empor. Es war ein Adler mit zwei Köpfen. Kronen, Scepter und Reichsapfel waren vergoldet. Es wurde Rosaurus recht unheimlich im Gedränge, denn Wilhelm war immer da, wo es am dichtesten war und zwar aus guten Gründen.
Viele Buden mit Sehenswürdigkeiten waren aufgeschlagen. Da gab es Wachsfiguren, Panoramen, Seiltänzer, Taschenspieler und Marionetten zu sehen; am meisten gab es aber Eßbuden, welche die herrlichsten Bissen aufgestellt hatten. Da zischten und dampften Bratwürste, dort gab es Kuchen, Torten, Früchte; Rosaurus verspürte großen Appetit und auch noch andere empfanden solchen.
Viele Leute kauften und ließen es sich wohl schmecken; aber viele standen dabei und konnten sich nichts kaufen und man sah es ihnen doch an den Augen an, daß sie es so gern gethan hätten; das waren die Armen. Darunter gehörte auch Wilhelm. Er tröstete sich aber mit dem Gedanken, daß er noch vor Schlafengehen sich auf irgend eine Weise ein Stück Kuchen verschaffen werde und mit diesem Trost lief er zur Menagerie.
Diese war leicht aufzufinden, denn vor derselben schrien Papageien und tanzten Affen in wunderlichen Sprüngen. Wilhelm bot dem Besitzer der Menagerie sein Kätzchen zum Verkauf. "Das ist ein rechtes Futter," sagte der Mann in verächtlichem Ton, "das füllt ja kaum einen hohlen Zahn des Löwen aus; doch um des Spaßes willen nehm ich dir den Kater ab. Da hast du einen Groschen, und wenn du sehen willst, wie dein Kätzchen gefressen wird, so kannst du in einer Stunde wieder kommen, da wird gefüttert du sollst eingelassen werden, ohne zu zahlen."
Wilhelm lief nun mit seinem Groschen zur Kuchenbude. Er dachte zwar daran, daß der Vater ihm befohlen habe, alles Geld nach Hause zu bringen; "da müßte ich doch ein rechter Narr sein!" sagte er zu sich selbst, kaufte ein Stück Kuchen, welches er sehr gemüthlich verzehrte, während einige seiner armen Schulkameraden ihm nicht ohne Neid zusahen.