Kapitel 21 - Zusammen leben

Es gab zwei Möglichkeiten, die Oncilla-Babys mit den anderen bekannt zu machen. Entweder würde ich sie nun das Haus erkunden lassen, - neugierig genug waren sie dazu - oder ich würde erst einmal ein paar andere Katzen hereinlassen, so daß sie die anderen auf eigenem Territorium kennen lernen würden. Ich entschloss mich zu letzterem.

Emeralda war nun ein paar Mal zu Besuch gewesen und das war immer gut gegangen bis auf einen Fall. Da kam Emeralda grade in dem Augenblick herein, als die Kitten gefüttert werden sollten. Als Emeralda zum Teller lief und am Fleisch schnüffelte, wurde Candy böse, stellte ihre Rückenhaare auf, bekam einen dicken "Pumpenschwengelschwanz" und fauchte. Ich fürchtete, daß sie Emeralda anfallen würde, und nahm die Abessinierin schnell auf den Arm und brachte sie aus dem Zimmer. Als ich zurückkam "bedankte" sich Candy bei mir mit ihrer Schmeichelgebärde um meine Beine.

Irgendwie, glaubte ich, sei Gloria vielleicht "oncillahaft" genug, um als erste von Candy akzeptiert zu werden. Gloria war ein schönes, kräftiges Kitten geworden und jetzt reichlich zwei Monate alt. Sie war etwas lebhafter als ein Abessinierkitten, aber Menschen und den anderen Katzen gegenüber voll Vertrauen und absolut furchtlos. Sie spielte wilde Spiele mit den jungen Abessiniern.

Nun ließ ich Gloria eines Abends einfach zusammen mit mir ins Oncillakinderzimmer laufen. Das war nicht schwierig, denn wenn ich sie nicht daran hinderte, lief sie überall wie ein Hündchen hinter mir her.
Nicht beabsichtigt war, daß auch zwei der Abessinierkitten mitlaufen würden, aber die kamen hinter Gloria her getrottet und ich ließ sie gewähren. Candy sah erst nur Gloria, schnüffelte an ihr und machte zur Vorsicht erst einmal die Drohhaltung mit dem gebogenen Schwanz und den gesträubten Haaren. Ich wollte grade Gloria retten, da sah ich, wie sie jetzt ihrerseits eine prima Drohhaltung fabrizierte: ein winzig kleiner, aber gekrümmter Rücken, gesträubte Haare, ein zischendes, fast richtiges Fauchen, - es war lächerlich und beeindruckend zugleich.

Candy dachte wahrscheinlich dasjenige, was Hermien so oft sagte: "Die ist ja echt!"; sie drehte sich gleichgültig um und ging zurück. Das aber faßte Gloria sofort als Sieg auf, sie rannte hinter der erschrockenen Candy her und jagte sie durch das Zimmer. Candy lief erst in einem Reflex fort, besann sich aber dann, drehte sich um, war sichtbar wütend und attackierte - nein, nicht Gloria, sondern die erstaunten Abessinierbabys, die das Ganze einen Riesenspaß fanden und jetzt ihrerseits einen hohen Rücken und "Pumpenschwanz" machten. Abessinier kennen nun einmal keine Furcht, was ihnen allerdings auch oft zum Verhängnis wird. Candy wurde das alles wohl zu dumm, sie drehte sich um und suchte ihre Kinder. Aber wo waren die? ... Unter dem Schrank! Sie hatten volle Deckung genommen und schauten ängstlich von dort aus den Ereignissen zu.

So würde es also im Urwald zugehen: die Kleinen bekamen den kurzen Befehl sich zu verstecken, wenn Gefahr drohte, und die Mutter würde sich dem Gegner stellen. Zum Glück war es in unserem Fall ein sehr harmloser und kleiner Gegner, der sich bald als Freund herausstellte. Von nun an kamen die Abessinierbabys und Gloria regelmäßig ins Oncillazimmer. Nur die kleinen Oncillas trauten der Sache noch immer nicht und krochen sofort unter den Schrank, wenn der "Besuch" kam.

Letztendlich war es dann doch Candy und nicht ich, die die Freundschaft zwischen den jungen Oncillas einerseits und den Abessinierkitten und Gloria andererseits zu Stande brachte. Als ich nämlich beim nächsten Mal die kleinen Abessinier hereinließ, versteckten sich die Oncilla-Babys wieder unter dem Schrank, aber diesmal gab Candy einen anderen Befehl, der sich für mich zwar genau so anhörte wie der vorige, der sie unter den Schrank kommandiert hatte, aber den die Kitten doch anders verstanden; denn sie kamen jetzt wie ein Pfeil hervorgeschossen und standen sofort neben Candy, die eben ein ganz kurzes "ürrr" sagte und oben auf den Schrank sprang. Von dort beobachtete sie die Situation weiter. Sie hatte beschlossen, die kleinen Abessinier für harmlos zu halten und sie durften jetzt ihre Kinder kennen lernen.

Die kleinen Abessinier und Gloria, lebhaft wie immer, spielten fröhlich drauf los, aber Victor und Victoria blieben stocksteif dort stehen, wo die Mutter sie hinkommandiert hatte. Die anderen störte das wenig, sie machten einfach weiter, bis vom Schrank herunter wieder so ein kleiner Laut kam und ein sehr zögernder Victor sich vorsichtig in das Spiel mengte. Victoria blieb abseits sitzen und bestaunte ihren mutigen Bruder. So blieb es für ein paar Tage, bis sich die Situation stabilisiert hatte und alle fröhlich miteinander durch die Gegend flitzten. Sogar am Futterteller der Oncillas wurden die kleinen Abessinier protestlos zugelassen. Das war aus Candys Sicht eine weitgehende Toleranz.

Candy merkte nun, was schon so manch einer gemerkt hat: wenn man sein Territorium für andere offen stellt, dann ist das gesellig und gastfrei. Aber der Neuling, der sich erst "wie zu Hause" fühlt, wird schon bald "ganz zu Hause" sein und der Gastherr bezahlt mit einem Stück seiner Freiheit. Da hat man schon Glück, wenn man nicht vollends vertrieben wird.

Allen Tieren, einschließlich des Säugetieres, das wir Homo sapiens nennen, ist das Bedürfnis am eigenen Territorium eingegeben. Das ist eine genetisch verankerte Tatsache. Dort wo die unterdrückt wird, häufen sich Unlustgefühle auf. Territoriumsverlust bedeutet Unsicherheit und Verlust von Selbstwertgefühl. Dagegen gibt es kein Mittel, auch wenn es zeitlich so scheinen möchte. Es kommt zu Streitigkeiten, Aggressionen, und wenn dann die Population zu dicht wird, geht es wie beim Dynamit, die Sache explodiert.

Das Bedürfnis am eigenen Territorium, ob das nun das der Familie oder der ganzen Gruppe ist, liegt seit Urbeginn im genetischen Erbgut fest verankert, ob das nun die Tiere sind, die Menschen oder sogar die Pflanzen. Das Territorium wird nicht nur nach außen verteidigt, sondern auch nach innen. Nach außen wird das eigene Gebiet gegen fremde Feinde verteidigt, nach innen gegen Überbevölkerung. Tiere warten nicht mit "bevölkerungspolitischen Maßnahmen, bis die Nahrung so knapp geworden ist, daß die schwächeren vor Hunger sterben. Sie haben ein strenges Bevölkerungsprogramm. Die Maßnahmen werden präventiv genommen, nicht die Hungersnot heute nötigt sie, die Zahl ihrer Nachkommen einzuschränken, sondern die Gefahr vor der Hungersnot morgen.

Bei Pelikanen in Neufundland, bei Fischen, Seehunden, Ratten, Fröschen und sogar bei Kaninchen haben Wissenschaftler durch Untersuchungen festgestellt, daß eine, den Lebensbedingungen angepasste Kontrolle eine Selbstverständlichkeit ist. Vitus Dröscher, aus dessen Buch: "Die freundliche Bestie" ich viele meiner Informationen auf diesem Gebiet habe, schreibt, daß für das lebenslange Hungerleiden menschlicher Millionenmassen in der "dritten Welt" keine Parallele im Tierreich zu finden ist. Geburtenkontrolle ist im Tierreich ein universelles Geschehen, dem sich kein Tier entziehen kann.

Jede Population hat ihre natürlichen Grenzen, die man nicht ungestraft überschreiten kann. "Die Selbstregulierung der Bevölkerungsdichte bei Tieren bietet oft nicht nur Schutz gegen die Gefahren der Überbevölkerung, sondern sie schafft auch gleichzeitig das Fundament für Stabilität." schreibt Dröscher im oben genannten Buch "Die freundliche Bestie", ein Buch, das Pflichtlektüre in jeder Schule sein sollte. Experimente mit den verschiedensten Tierarten, u.a. mit Fischen und Ratten, haben gezeigt, daß sobald die Bevölkerungsdichte im Labor einen bestimmten Limit überschritten hat, die Gewohnheiten der Tiere degenerieren. Die Männchen vergewaltigen die Weibchen. Diese vernachlässigen ihre Jungen, es kommt zum Kannibalismus.

Unmissverständliche Zeichen deuten darauf hin, daß auch der Mensch in der Masse zwangsweise an Degenerationserscheinungen bloßgestellt werden wird, wie sie in gleicher Form bei Überbevölkerung in der Tierwelt bekannt sind. Aber, - und das ist das Fatale- diese Degenerationserscheinungen werden kaum eine regulierende Wirkung auf die totale Bevölkerung haben. Wohl können sie zu einer regelrechten Katastrophe führen.

Von Überbevölkerung bis zum Nichts ist es nur ein Schritt. (Man möge mir vergeben, wenn ich nicht wörtlich zitiert habe. Mir liegt nur die holländische Version des hervorragenden Buches von Dr. Dröscher vor, deren holländischer Titel mir übrigens besser gefällt als der deutsche, nämlich: "Dieren gedragen zich", was zu Deutsch heißt: "Tiere verhalten sich".

Das Buch von Vitus Dröscher kannten wir zu der Zeit, von der ich erzähle, noch nicht, aber wir haben immer danach gestrebt, unseren Tieren nach besten Kräften das Gefühl zu geben, daß sie ihr eigenes Reich hatten, auch wenn das für uns persönliche Opfer erforderte. Ich glaube, daß darum bei uns das gelungen ist, was in Tiergärten so schwierig ist, nämlich, daß wir relativ reibungslos Nachkommen von den kleinen Tigerkatzen bekamen und großziehen konnten.

Die Apfelkiste war noch immer Candys nächtlicher Schlafplatz, das Klappbett der Platz für die Siesta. Manchmal traf sie dort nun andere an, die es sich schon gemütlich gemacht hatten. Es kam nie zum Streit, aber selten sah ich Candy kapitulieren. Irgendwie wußte sie (vielleicht in einer Gebärdensprache, die mir entging), ihre Rechte geltend zu machen.

Zum ersten Mal hatte ich den Eindruck, daß Candy unnatürlich reagierte. In der Natur hätte sie ihr Territorium viel heftiger verteidigen müssen, jedenfalls dann, wenn der Eindringling ein Gefechtspartner war, dem man nicht schon von vornherein unterliegen müsste, weil er viel stärker und größer ist. Territoriumsverlust ist, natürlich gesehen, gleichbedeutend mit Lebensgefahr. Wer kein "Zuhause", ein Gebiet, das ihm Nahrung (Beute) liefert und Schutz (Bäume und Sträucher) bietet, der kann nicht überleben.

An Candys Toleranz den anderen gegenüber, die nun ihr Kinderzimmer zum allgemeinen Spielzimmer machten, erkannte man, daß sie in ihnen Freunde und Artgenossen sah. Trotzdem hatten wir noch immer versucht, Milagro von dem allen fern zu halten. Ihn, sowohl als Buena, wollten wir in je einem eigenen Programm mit den Kleinen zusammenbringen, Milagro des verunglückten ersten Versuchs wegen, Buena einfach deshalb, weil wir dachten, daß die so kleinen Dinger doch vielleicht Assoziationen mit Beutetieren in ihr wachrufen könnten.
- Wie oft haben wir Buena auf dem Gebiet nicht unrecht getan! Ihre Begegnung mit den Oncilla-Babys verlief völlig reibungslos, fast uninteressant. Sie durfte sie erst durch die Maschendrahttür des Wintergartens sehen. Sie reagierte spielerisch und keineswegs aggressiv. Buena hat uns eben immer beschämt, wenn wir in ihr ein "wildes Tier" zu sehen glaubten. Ihre wilde Schönheit hatte, trotz der Vertraulichkeit unseres Verhältnisses, eine Ausstrahlung von Macht und gebändigter Kraft. Ihr goldenes Herz beschämte uns dann oft.

Anders war es bei Milagro. Er war ein Despot und ein kleiner Macho obendrein. Candy würde ihre Gründe gehabt haben, als sie ihn nicht zu ihren Kitten ließ, ehe sie sich einigermaßen verteidigen konnten. Vorsicht war also geboten. Wir schoben das Experiment noch etwas auf.

Schon im Sommer hatte ich eine Einladung zu einer Ausstellung in Paris angenommen, die im Oktober stattfinden sollte. Damals mußte man sich schon mindestens zwei Monate vor dem Ausstellungsdatum anmelden. Es gab schließlich nur eine Ausstellung per Land und da fanden sich viele Ausstellungswillige. Es hatten sich auch noch mehrere Mitglieder des Katzenvereins angemeldet und wir hatten verabredet, zusammen zu reisen. Ich war überzeugt, daß zu Hause alles auch ein paar Tage ohne mich funktionieren würde, und hielt mich also an die Verabredung.

Ich weiß gar nicht mehr, mit wem ich zusammen reiste, und auch nicht einmal mit welchen Katzen. Gerade das gibt mir heute zu denken: wie viele Dinge tut man doch im Leben, die im Augenblick so viel bedeuten, und ein paar Jahre später weiß man schon nichts mehr davon? Wenn man zurückblickt, wie ich in diesen Tagen, in denen ich meine Erinnerungen aufschreibe, wird mir deutlich bewusst, wie viel kostbare Zeit ich vergeudet habe. Sie ist unwiederbringlich dahin.

Die Ausstellung selbst wird schön gewesen sein, denn alle Ausstellungen in Paris waren schön. In meinen Aufzeichnungen steht nur: "Paris, gute Reise, erfolgreiche Ausstellung". Weiter nichts. Aber über die Folgen steht dort eine Menge und ich würde es auch sonst noch wissen. Ich vergesse nie, wie ich erschrak, als ich nach Hause kam und Candy sah. Sie kam auf mich zu, etwas schwankend, mager. An der rechten Seite ihres Halses hatte sie eine dicke Beule, als wenn sie eine Mandelentzündung hätte.

Ich holte Fleisch aus der Gefriertruhe, machte es warm und bot es ihr an. Sie wollte es nicht. Es war mir deutlich, daß sie krank war. Ich rief den Tierarzt an, der zwar gerade Sprechstunde hatte, aber sagte, daß er ein paar Globenicoltabletten bereitlegen würde, die ich abholen oder abholen lassen könnte. Eine Stunde später hatten wir die Tabletten im Haus. Ich steckte eine davon in ein Klümpchen sehr fein geschnetzeltes Fleisch, aber Candy weigerte sich, auch nur einen Bissen zu nehmen.

Zu meinem Schreck bemerkte ich, daß Victor und Victoria vor mir flüchteten, als ob sie mich noch nie gesehen hätten. Und sie waren doch so zahm gewesen! Erst später lernte ich, daß es in der Entwicklung der Tiere (auch der Menschen) verschiedene "sensible Phasen" gibt, in denen sich im Gehirn bestimmte Eindrücke, Erfahrungen, aber auch Beziehungen einprägen. 1964 hatte ich davon noch nichts gehört und so war ich wohl im aller ungünstigsten Augenblick verreist.

Nach Paris zu fahren war eine Fehlentscheidung gewesen, aber das war nun nicht mehr zu ändern. Ich hatte auch keine Zeit darüber nachzudenken. Ich mußte erst einmal sehen, wie ich meine arme Candy wieder auf die Beine bekommen würde. Am nächsten Morgen gelang es mir mit viel Mühe, ihr etwas geklopftes Eidotter zu geben, das mit einer zerstampften Globenicoltabletten vermischt war. Der Tierarzt kam noch eben nachsehen und war zufrieden, daß es mir gelungen war, Candy mit List und Tücke ihre Medizin zu verabreichen. Die Medizin wirkte tatsächlich, schon am selben Abend aß Candy ein kleines Stückchen Taube. Ich hatte noch einmal Glück gehabt.

Um die Kitten wieder an mich zu gewöhnen, bezog ich nun wieder das Klappbett im Oncillazimmer. Die Kitten kamen zwar nicht auf mein Bett, aber in der Nacht hörte ich sie wenigstens spielen. Meine Gegenwart hatte sie also nicht vollkommen aus dem Rhythmus gebracht. Das war ein kleiner Trost.


Am nächsten Morgen holte ich gleich wieder Gloria und ihre Stiefschwestern, die Kleinen von Anuschka, ins Zimmer. Sie waren in dem Spielalter, in dem sie wild miteinander herumtollen und sie kannten schließlich Victor und Victoria so gut, daß sie im Oncillazimmer völlig zu Hause waren. Ein Pingpongbällchen tat den Rest und sie tobten durch das Zimmer. Nur hatte das nicht die gewünschte Wirkung, denn die kleinen Oncillas weigerten sich, mitzuspielen, genau wie zu Anfang bei ihrer Begegnung mit Gloria und den anderen. Ich wußte wieder einmal nicht, wie es weitergehen sollte.

Candy nahm, wieder einen Tag später, wie gewöhnlich die Sache selbst in die Hand. Sie war sehr schnell wieder besser geworden und verlangte jetzt auf einmal, aus dem Zimmer gelassen zu werden. Als ich die Tür öffnete, rief sie ihre Jungen, die wie immer in Sekundenschnelle gehorchten, und wanderte mit ihnen aus dem Zimmer.

Erst brachte sie sie in die Küche, ging mit ihnen um den Kühlschrank und den Gasherd herum, immer mit kleinen Lauten für die Kinder, die ihr "bei Fuß" folgten. Dann wollte sie ins vordere Zimmer. Sie ging um den Tisch herum, unter dem Sofa her und noch einmal darum herum, zeigte den Kindern die Sessel und die Schränke und sogar das Radio. Das hätte man filmen müssen!

Auf einmal dachte ich: ich sehe nicht recht. Da laufen drei Kinder hinter Candy her, die zwei Oncillas und die winzig kleine Niña, Emeraldas Baby. Sie lief brav mit und tat alles, was die Oncillas taten. Als Candy sich umdrehte, sah sie das, schnüffelte eben an Niña, leckte ermutigend über ihr Köpfchen und spazierte weiter, jetzt mit drei Kindern.

Als Candy den Kindern alles gezeigt hatte, ging sie wieder aus dem Zimmer, drehte sich bei der Zimmertür noch einmal um und "spritzte" energisch gegen die Tür. "So, das ist jetzt von uns!" hieß das. Ich habe es ihr, wie immer, vergeben.

Ab und zu versuchten wir vorsichtig, den Familienvater Milagro mit seiner Familie zu vereinen, aber das stieß auf Widerstand von Candy. Wenn Candy mit den Kindern frei im Haus herumlaufen wollte, hatten wir immer erst aufgepasst, daß er grade im Garten oder oben im Wintergarten war. Wenn die Tür zu Candys Zimmer geschlossen war, saß er oft lange dort vor der Tür, schnüffelte am Spalt darunter und kratzte an der Tür. Zuletzt ging er regelrecht in Hungerstreik und ich konnte das so nicht mehr ansehen. Also setzte ich eines Tages einen großen Teller mit Fleisch für Candy und die Kinder ins Zimmer, dann ließ ich mit klopfendem Herzen Milagro hinein. Milagro war vernünftig genug, sich ganz still und heimlich zwischen die Kinder zu zwängen und aß mit. Candy sah auf, wollte scheinbar erst fauchen, besann sich dann und ließ ihn gewähren. Mir fiel ein Stein vom Herzen, es war gelungen, die Familie zu vereinen.

Seitdem wurden sie jeden Abend zusammen gefüttert und es wurde eine feste Gewohnheit, daß erst Milagro zum Teller ging, alle anderen warteten, bis er ein Stück vom Fleisch gewählt hatte. Dann holte Victor sich seine Portion, danach brachte Milagro höchstpersönlich ein Stück an Victoria und zuletzt kam Candy dann zum Teller und aß, was übrig war.

Genau wie Milagro fing Victor sofort an zu essen, Victoria wartete ein wenig, Candy trug ihr Stück irgendwohin und bewahrte es, bis die anderen gegessen hatten. Ich sorgte mich manchmal, ob sie wohl genug bekäme bei der Prozedur, aber wenn ich sie ermutigte, zeigte sie mir deutlich, daß ich mich in Sachen einmischte, die mich nichts angingen. Diese Reihenfolge der Mahlzeiteinnahme gehört wohl zu den guten Oncillamanieren. Wie sich das bei den Oncillas in der Natur abspielt, darüber gibt es keine Berichte. Es kann nicht anders sein, als daß Milagro und Candy das Ritual ausführten, für das sie genetisch programmiert waren.

Milagro spielte jetzt auch oft mit seinen Kindern und gewiss nicht wilder, als Candy es tat. Überhaupt spielten die Oncillas ungewöhnlich viel. Man weiß, daß das Spiel bei allen Tieren einschließlich des Menschen eine Form von Lernen ist. Da man sagt, daß man die Höhe der Intelligenz von Tieren daran erkennen kann, wie viel sie spielen, war ich stolz auf meine Schützlinge, wenn ich sah, wie aktiv sie waren.

Allerdings kam bei uns noch dazu, daß die Oncillas keine Zeit zur Futtersuche zu verwenden brauchten. Spielen ist nämlich auch ein Luxus im Leben der Tiere, den sie sich nur erlauben können, wenn genug Nahrung vorhanden ist. Also spielen und lernen Tiere dort, wo und wenn genug Nahrung vorhanden ist, und das macht wiederum ihre Chance zu überleben größer. So ergibt es sich, daß die Population sich dem Nahrungsangebot anpasst. Das ist, wie schon oben erwähnt, das Naturgesetz, das von allen Lebewesen nur der Mensch missachtet.

Es ist so merkwürdig, daß wir Menschen uns für so schlau halten. Von meinen Tieren habe ich gelernt, daß sie in mancher Hinsicht weitaus schlauer sind, als wir Menschen. Natürlich können sie keine chemischen Formeln beherrschen, ich möchte fast sagen "Gott sei Dank", aber sie haben einen weitaus realistischeren Verstand als wir. Ihr Verstand beherrscht das Gebiet, das für ihr Leben wirklich brauchbar ist. Man kann ihnen nichts vormachen. Kein Tier wird seine Nahrungsgewohnheiten aus irrationalen Gründen umstellen, weil es schlank sein will oder weil es irgendwelche andere Ziele damit verfolgt. Es weiß auch genau, was gesund ist und ihm nützlich. Und sicher würde kein Tier so dumm sein, sein Leben zu verändern oder gar angenehme Dinge zu opfern, weil man ihm eine Belohnung verspricht, die der mystischen Phantasie anderer entsprungen ist oder ein leeres, abstraktes Versprechen. Wir Menschen haben die Neigung zu denken, daß das wahr ist, was wir glauben; die Tiere sind da realistischer, sie vergewissern sich lieber. Im menschlichen Bereich erfährt man immer wieder, daß "der Glaube die Botschaft zur Wahrheit" macht. Die Tiere sind noch so gesund, daß sie ihre eigenen fünf Sinne gebrauchen, um die Wahrheit heraus zu finden. Das konnten wir nie besser demonstriert bekommen, als bei Candy und ihrer Familie.
Wenn die jungen Oncillas erschraken, liefen sie jetzt genauso oft zu Milagro wie zu Candy. Wieder einmal war alles wundervoll und wieder einmal endete es erst einmal schnell. Candy wurde wieder heiß und ich wollte keinesfalls, daß schon wieder junge Oncillas "erschaffen" würden. Das wäre weder Candys noch meiner Gesundheit zuträglich gewesen, also trennte ich die Familie vorläufig wieder.

"Ich trennte die Familie...." das liest sich gut. Mein Mann allerdings, der natürlich "mitlas", wenn ich schrieb, bekam einen Lachanfall: "Ich trennte die Familie...." Das klingt als ob man gesagt hätte: "Komm sei brav, lieber Milagro, geh mal schön nach oben. Candy ist zwar heiß, aber das ist nichts für dich und geht auch wieder vorbei." Mein Mann hatte da eine andere Erinnerung: "Wenn ich noch an das Theater denke!"

Also muss ich wohl mit der Wahrheit herausrücken: es war eine süß-saure Komödie und ich war dabei die komische Figur. Denn das Letzte, was Milagro mir zollte, war Respekt. In meinem Tagebuch, das ich jetzt wieder zu Hilfe nehme, steht alles bis ins kleinste Detail aufgeschrieben, aber alles brauche ich natürlich nicht zu bekennen, ich habe auch meinen Stolz.

Als ich entdeckte, daß Candy rollig würde, ihre Beule am Schwänzchen zu bluten anfing und ich sah, daß sie schon "präsentierte", war Els schon fortgegangen. Mein Mann dagegen war noch nicht zu Hause. Also stand ich allein vor dem Familientrennungsexperiment.

Das Fleisch war schon aufgetaut. Ich nahm ein Stückchen: "Schau mal, Milagro, ist das nicht lecker?" Er rümpfte nicht einmal die Nase, er steuerte selbstbewusst auf Candy zu. Um Candy abzulenken gab es nur einen Trick und der war nicht fair aber brauchbar. Ich näherte mich schnell und nicht grade leise Victoria, die sofort Alarm schlug. Das lenkte Candy lange genug ab, um mir Zeit zu geben, mich zwischen Candy und Milagro zu postieren. Ende der ersten Szene.

Jetzt versuchte ich Milagro mit dem Fleisch aus dem Zimmer zu locken, - kein Interesse. Ha, dachte ich, der Reflex, wenn etwas wegläuft oder fliegt! Ich nahm das Fleisch und warf es in Richtung Tür. Mit einem Sprung raste.... nein, nicht Milagro sondern Victor hinterher und Candy folgte ihm. Ich hatte die Tür schon in der Hand und schloss sie in einem Reflex meinerseits. Ergebnis: Candy und Victor draußen, Milagro und Victoria drin. Richtige Methode, falsche Wirkung. Also die Tür wieder öffnen, neues Fleisch holen, noch einmal versuchen.

Milagro fing an sich zu ärgern, er fand mich lästig und unerwünscht. Ich durchkreuzte seine Pläne. Was sollte ich tun? Ich war völlig hilflos, schließlich war Milagro ganze 24 cm hoch und ich war allein.

Nächste halbe Stunde: keine Veränderung in der Rollenverteilung.

Als mein Mann nach Hause kam, saß ich mit einem Stück Fleisch in der Hand auf der Treppe, Candy war aus unbekanntem Grund böse auf Victor und schlug den um die Ohren und Milagro war noch immer voll freudiger Erwartung kommender Liebesabenteuer.

Mein Mann wunderte sich längst über nichts mehr, aber trotzdem wollte er wissen: "Was ist denn hier los?"

"Candy ist rollig, ich versuche Milagro daran zu hindern, sie zu decken und will ihn nach oben bringen." sagte ich etwas atemlos.
"Warte mal.." mein Mann nahm seinen Schal ab, schlingerte ihn wie ein Stierkämpfer vor sich her und wußte so Milagro, der abwechselnd den Schal zu greifen versuchte und dann wieder einen taktischen Rückzieher machte, auf den Korridor zu locken. Auf die Dauer gelang ihm das sogar.
"Kein Problem" sagte mein Mann, "Wo soll er jetzt hin?"
"Nach oben", sagte ich matt und kam mir wenig kompetent vor.

Milagro allerdings war anderer Meinung. Mit einem Satz war er in der Küche, flitzte hinter den Gasherd.

"Pass auf, daß er das Essen nicht umwirft!"
"Es gibt keins, ich hatte keine Zeit zum kochen."
"Oh!"

Noch eine Dreiviertelstunde ungefähr haben wir mit Tüchern und Fleischstückchen manipuliert, dann hatten wir Milagro oben im Badezimmer. Stufe für Stufe hatte er sich herauf locken lassen. Aufscheuchen wollten wir ihn nicht, auch wenn das schneller gegangen wäre. Das Vertrauen, das er zu uns hatte, durfte nicht zerstört werden.

Daß ich nicht gekocht hatte, war nicht so schlimm, wir waren beide zu erschöpft für eine ausführliche Mahlzeit. Für solche Fälle gab es immer "Notrationen", die gar nicht so schlecht waren. Ein wichtiger Bestandteil der Abendmahlzeit war vor allem, daß man zusammen saß und einander die Ereignisse des Tages erzählen und Meinungen austauschen konnte. Mein Mann hatte eine interessante Arbeit und ich hatte immer von meinen Abenteuern des Tages zu berichten.

Als wir später am Abend das Badezimmer zu dem benutzen wollten, wozu es bei normalen Leuten dient, saß Milagro wie ein Häufchen Elend in einer Ecke und hatte sein Stück Taube nicht angerührt. "Er wird sie in der Nacht verputzen", dachten wir. Aber auch am nächsten Morgen hatte er keinen Happen davon genommen. Uns sah er an, als ob wir fremde Ungeheuer wären.

Hermien sah am nächsten Tage eben herein und sie war nicht mit mir zufrieden: "Du gebrauchst große Worte, daß du die Tiere so natürlich wie möglich hier leben lassen willst, aber was du jetzt tust, ist äußerst unnatürlich."

"Ich weiß, aber willst du vielleicht das nächste Oncilla-Nestchen großziehen und behalten?"
"Würde ich liebend gern, aber du weißt, daß das nicht geht."
"Na, also!"

Unten im Oncillazimmer veränderte sich die Situation jetzt. Victor übernahm die Rolle von Milagro, nahm erst seine eigene Portion, brachte dann ein Stück an Victoria und danach erst durfte Candy zum Teller. ("Wenn ich groß bin, liebe Mutti!")

Candy blieb eine ganze Woche lang rollig und Milagro hatte nach einer Woche noch keinen Happen gegessen, nur ein wenig Wasser getrunken. Er sah struppig und elend aus. Ich glaube, wenn Candys Hitze noch lange gedauert hätte, dann hätte ich sie aus Mitleid von Milagro doch noch decken lassen. Aber glücklicherweise legte sich ihr Zustand schnell und ich ließ die Tür vom Badezimmer offen stehen, um Milagro frei zu lassen. Aber der war so apathisch geworden, daß er gar keine Notiz von der offenen Tür nahm. Er blieb in seiner Ecke liegen.

Wenn der Berg nicht zu Mohammed kommt.....ich würde Candy und die Kinder nach oben bringen müssen. Ich rief also erst einmal Candy. Sie kam immer, wenn man sie rief: "Candy, kom (komm)!"

Man sagt, daß die intelligentesten Säugetiere bis zu 50 Worte lernen können, d.h. ihre Bedeutung verstehen und danach handeln. Ich weiß nicht, wieviel Worte ich meinen Wildkatzen hätte beibringen können, wenn ich das damals gewußt hätte. Ich bin sicher, daß es viele gewesen wären. Von einigen, wichtigen, wußten sie die Bedeutung. Das Wort "kom" verstand Candy tadellos und befolgte es auch.

Das Wort "af" also zu Deutsch "ab" ist auch so ein Wort, das alle meine Katzen lernen müssen. Es gibt Situationen, in denen es absolut notwendig ist, die Katzen zurückzurufen oder zu warnen, z.B. am Gasherd oder wenn sie die Blumen aus der Vase ziehen wollen, ehe die- oder derjenige, der sie uns mitgebracht hat, wieder fort ist. Dann kann ein wirkungsvolles "Af!" eine Katastrophe verhindern.

Wenn ich dagegen "Poule-poule" rufe, wissen bis heute alle meine Katzen, daß es etwas zum Futtern gibt. Man hat mich oft deswegen ausgelacht. Erst als ich das "Poule-poule" längst bei uns eingebürgert hatte, wurde mir bewußt, warum ich gerade dieses Zwillingswort als Lockruf gebrauchte.

Als Kind hatte ich meine Ferien viel auf dem Bauernhof meines Onkels verbracht. Dort gab es viele Tiere, Pferde, Kühe, Schweine, Hühner und Gänse, Hunde und Katzen. Es war ein Paradies für mich. Mit den Hunden und Katzen spielte ich natürlich, aber am Abend durfte ich die vielen Hühner füttern. Es waren solche, die man heutzutage "glückliche Hühner" nennt. Sie scharrten den ganzen Tag auf den Feldern herum, wo es genug zu picken gab, denn es war ein "gemischter Betrieb" mit Vieh, aber auch langgestreckten Kornfeldern. Am Abend sollten alle Hühner zum Stall zurückkehren, darum gab es abends eine Extraportion Hühnerfutter. Der Lockruf, mit denen sie gerufen wurden, hieß "Poule-poule", also eigentlich "Hühnchen-Hühnchen", aber meine Kenntnisse der französischen Sprache waren wohl nicht so intensiv, daß ich mir der Bedeutung des Lockrufes bewußt gewesen wäre. Für mich wurde er zum Futterlockruf allgemein.

So haben meine Katzen also meine sprachkenntliche Fehlentwicklung als "Gong" kennen gelernt, "Poule-poule" bedeutet: es gibt Futter. Auch Candy kannte die Bedeutung des Lockrufes, genau wie die von "komm". Sie kannte auch die Bedeutung von "kindjes" (Kinderchen). Gleich als die Kleinen geboren waren, hatte ich jedesmal, wenn ich zu den Kleinen kam, lobend zu Candy gesagt: "Mooie kindjes heb je, Candy!" (Schöne Kinderchen hast du, Candy!") oder auch nur: "Ah, kindjes!" Das verstand sie bald. Wenn sie später einmal nach meiner Meinung zu lange von ihren Kindern fort war, oder wenn irgend etwas mit den Kindern nicht in Ordnung war, sagte ich "kindjes!" und dann ging sie sofort zu ihren Kindern zurück.
Als ich jetzt Candy mit den Kleinen nach oben zu Milagro bringen wollte, rief ich aus Gewohnheit: "Candy kom!" Candy kam und sah mich an. Die Kinder waren im Oncillazimmer zurückgeblieben. Also sagte ich: "Nee, Candy, ook de kindjes" ("Nein Candy, auch die Kinder"). "Kindjes" verstand sie, brav ging sie zurück zu den Kleinen. Die kleinen Oncillas selbst konnte ich noch nicht rufen, sie gehorchten noch immer ausschließlich den Befehlen der Mutter.

"Candy kom, MET kindjes!" ("Candy, komm MIT den Kindern")

Aber das war eine neue Situation, zwei Anweisungen in einem Satz: "Kom" war Richtung Treppe, wo ich stand, "kindjes" war ein Auftrag in Richtung Zimmer, wo Victor und Victoria waren. Candy war sichtbar ratlos. Ich holte einen Teller mit Fleisch und hielt ein Stückchen hoch. "Candy EN kindjes, KOM, Poule-poule!"

Sie reagierte auf das Poule-poule und postierte sich dort, wo sonst der Teller immer hingestellt wurde. Mir wurde klar, daß es jetzt Zeit für eine neue Unterrichtsstunde wäre. Ich hielt das Stück Fleisch hoch, ging ein paar Stufen die Treppe herauf und sagte: "Candy BRENG kindjes" (Candy, BRING die Kinder). Eben lief sie ratlos hin und her. Ich rief das ganze noch einmal und ja, sie verstand es. Sie rief ihre Kinder und folgte mir (und dem Stück Fleisch) bis oben ins Badezimmer. Den Ausdruck "breng kindjes" hatte sie für immer gelernt.

Oben setzte ich den Teller auf den Fußboden und sofort ging Milagro hin und stürzte sich auf das Futter. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Victor allerdings nahm sein Stück Fleisch und legte es ein wenig abseits, griff dann das zweite und gab es Victoria. Trotz seines Hungers merkte Milagro das und fiel Victor an und wollte mit ihm streiten. Wenn ich nicht meine guten Vorsätze, der Natur keine Vorschriften machen zu wollen, vergessen hätte und doch dazwischen gekommen wäre, hätte es in unserem Badezimmer einen Krieg gegeben.

Das war der Anfang des Generationskonfliktes zwischen Milagro und seinem Sohn Victor.





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