Kapitel 31 - Das Recht auf Leben

Kurz vor Weihnachten gab es den ersten Ärger in Ingen. Ich hörte auf einmal laute Schüsse und lief nach draußen. Da scheuchte eine Horde junger Männer mit ihren Hunden die Hasen auf und ein paar Männer mit Gewehren ballerte drauf los, als ob sie im Krieg dem ärgsten Feind gegenüber ständen. Mich packte eine Mordswut. Ich lief zu den Leuten und schrie sie an: "Schämen Sie sich nicht, daß Sie hilflose Tiere vor Ihre Füße scheuchen lassen und sie dann ermorden?" - Ich sagte "ermorden" und das schien die Leute sehr zu amüsieren.

Ich wurde nur noch böser: "Ich bin die Eigentümerin dieses Stückchen Landes und wenn nur noch eine Kugel von Ihnen über meinen Grund und Boden fliegt, oder wenn einer von Ihnen auch nur einen Fuß auf mein Land setzt, dann rufe ich die Polizei und verklage Sie wegen Hausfriedensbruchs." (Mein Mann erklärte mir später, daß ich die juristische Sachlage nicht ganz richtig ausgedrückt habe, aber das wussten die so genannten Jäger auch nicht.)

Irgend jemand von ihnen sagte etwas zu den anderen und sie gingen zu meiner Erleichterung ein wenig weiter und knallten da herum. Niemand war erstaunter als ich, daß meine Warnung so gewirkt hatte.

Ich mußte mich erst einmal abreagieren und das geht bei mir am besten an der Schreibmaschine. Ich ging ins Haus und schrieb einen Leserbrief an die "Tielsche Courant", die Zeitung, die dort am meisten gelesen wird. "Ich hätte gehofft", schrieb ich, "daß ich in Ingen in ein so friedliches Dörfchen gekommen sei, aber den Weihnachtsfrieden kenne man dort wohl nicht. Es wäre einfach feige, wenn große, starke Männer sich da hilflose Tiere vor die Füße jagen ließen, um die dann abzuknallen. Ich würde ernsthaft erwägen, im Wiederholungsfalle die Polizei zu Hilfe zu rufen."

Der Brief wurde tatsächlich gedruckt. Es stand noch ein zweiter Leserbrief darunter. In dem stand, daß der Schreiber den Brief von Frau Falkena von der Zeitung zur Einsicht bekommen hätte und um Kommentar gebeten sei. Er wisse, daß Frau Falkena gerade kürzlich aus der Stadt zugezogen sei. Sie sei gewiss eine große Tierfreundin, aber sie kenne wohl noch nicht den Unterschied zwischen Mord und Jagd. Dass man Hasen abschießen würde, wäre sehr nützlich, denn die fräßen sonst die Ernte weg. Er habe zwar Verständnis für meine Aufregung, aber er sei sicher, daß ich auf die Dauer das alles noch lernen würde.

Die Polizei hätte ich übrigens nicht zu rufen brauchen, die sei bereits dabei gewesen. Er, der Schreiber sei einer der Jäger und zugleich der Polizeichef des Distrikts.

Und was sagte mein Mann, als er nach Hause kam und das las? Er sagte: "Das hätte ich dir vorher sagen können, daß du damit nichts erreichst."

Eine kleine, bescheidene Rache gelang mir trotzdem. Als nämlich ein paar Tage später jemand an die Tür kam und mir ein Los von einer Lotterie zugunsten des Musikvereins verkaufen wollte, habe ich erst einmal nachgesehen, was man da gewinnen könnte, und was sah ich? Gewinnen konnte man verschiedene "Festbraten", nämlich Hasen und Fasanen. Das waren also die armen Viecher, die da gejagt und erschossen waren. Ich sagte zu dem Mann, der die Lose verkaufte: "Sie können ihrem Verein bestellen, daß er, solange ich hier wohne, keinen Cent von mir bekommen wird. Mir gefällt die Musik nicht, die aus ihren Gewehren kommt."

Im Laufe des Jahres sagte dann eine Bekannte zu mir: "Sie brauchen weiter gar nichts zu tun, als mit Ihrem Fotoapparat nach draußen zu laufen, wenn die Jäger in der Nähe sind. Die wollen nämlich gerade jetzt, wo so viele Stimmen gegen die Jagd erhoben werden, jede Publizität vermeiden."

Das hat tatsächlich gewirkt. Danach haben die Jäger immer einen großen Bogen um unser Grundstück gemacht. Sie wollten scheinbar keinen Ärger haben. Manchmal fuhr ich auch, wenn ich die Jäger sah, ein wenig mit meinem kleinen Morris Mini "spazieren", dort wo grade gejagt wurde. Natürlich mußte ich immer tüchtig hupen, damit ich keine Jäger oder ihre Hunde oder gar Hasen überfuhr! Ich hoffte, daß wenigstens die Hasen davon so erschrecken würden, daß sie sich in Sicherheit bringen würden. Ich habe immer gehofft, daß die Hasen unser Grundstück als Zufluchtsort ansehen würden, aber ich habe nur sehr selten einen gesehen. Vielleicht hätten wir Kohl anbauen sollen.

Es ist bekannt, daß Hasen, wenn sie durch eine Hundemeute gejagt werden, zu den Menschen fliehen. Das ist natürlich nicht so merkwürdig, wenn man bedenkt, daß die Hunde sie in Richtung der Jäger hetzen. Der Hase sieht dort nur ein warmes, stillstehendes Wesen, das nicht zähnefletschend hinter ihm her rennt und bei dem er Deckung vermutet. Ein Hoffnungsschimmer vielleicht.

Der holländische Schriftsteller van Zomeren beschreibt in seinem Bändchen "Sommer", wie er durch einen Feldstecher einen Hasen beobachtete, der so auf einen Jäger zu flüchtete, der sein Gewehr schon über die Schulter gehängt hatte, und sich vor ihm hin duckte und still sitzen blieb. Van Zomeren beschreibt, daß das Tier in dem Augenblick "wie ein großes, klopfendes Herz" aussah. Der Jäger griff das Tier mit der einen Hand an den Hinterläufen, hielt es hoch und mit der anderen Hand brach er ihm den Hals. (Man erinnere sich bitte: "Die Würde des Menschen ist unantastbar!!!")

Der frühere deutsche Bundespräsident Theodor Heuss hat seine Meinung über die Jagd mit diesen Worten ausgedrückt: "Die Jägerei ist eine Form menschlicher Geisteskrankheit."

Mein persönlicher, kleiner Kampf gegen die Jagd ist nun schon viele Jahre her. Vieles hat sich geändert, aber noch immer jagen Menschen, trotz vielseitiger Proteste der Tierschützer, wehrlose Tiere. Heute würde ich allerdings wahrscheinlich etwas sachlicher auf die Ereignisse reagieren, obwohl ich noch immer gegen Treibjagden solcher Art bin.

Über den Jagdinstinkt im Menschen haben sich schon ganz andere den Kopf zerbrochen als ich. Er ist einer der Urinstinkte nicht nur der Menschheit, sondern, wie wir wissen, alles dessen, was lebt. Die Nahrungskette, das Fressen und gefressen werden, ist die Grundregel des Lebens. Das müssen wir akzeptieren, ob es uns nun gefällt oder nicht. Selbst Pflanzen leben nicht nur von Sonne, Sauerstoff und Wasser. Sie brauchen Humus und der entsteht aus dem Überbleibsel gestorbener Pflanzen. Sie sind also sozusagen pflanzliche Aasfresser.

Seit dem Mesolithikum (der mittleren Steinzeit) hat der Mensch die Jagd nicht mehr wirklich nötig. Er lernte Pflanzen zu "domestizieren", sie als Nutzpflanzen selbst anzubauen und als Nahrungsquelle zu nutzen. Er hat sich die "Nutztiere" unterworfen für, unter anderem, seinen Fleischkonsum. - Warum wird also doch noch gejagt?

Christian Vogel schreibt in "Vom Töten zum Mord": -"Der Löwe, der die Gazelle schlägt, sündigt nicht; der moderne Jäger, der aus Lust am Töten eine Gazelle erschießt", begeht eine Sünde, und weiter: "Leiden und Sterben in der Prähumanen Revolution sind konstitutive, wertneutrale Faktoren der Evolution; vom Menschen verursachtes Leiden und Sterben ist unter keinen Umständen mehr wertneutral, sondern muß sittlich verantwortet werden. ..." - daran ändern auch die modernen Ausreden der Jäger unserer Tage nichts, die Trophäenjäger verurteilen und für sich selbst die Ausrede der ökologischen Jagd (sogenannt zur Rettung des Waldes) erfunden haben. Kein Reh und kein Hirsch kann soviel Bäume zerstören, wie der Mensch mit seinem Leben in der "Zivilisation". Und wenn die Menschen die großen Wildtiere nicht längst ausgerottet hätten, dann brauchten sie sich auch keine Sorgen um das Gleichgewicht in der Natur zu machen.

Anfang dieses Jahrhunderts gab es noch kein einziges allgemeines Jagdgesetz. Jedes Fürstentum, jede kirchliche Gemeinde hatte ihre eigenen Regeln. Tiere konnten nach Belieben und auf jede Weise gejagt und getötet werden.

In Deutschland wurden Bison, Bär, wilde Pferde, Adler und manche andere Tierart so gut wie ausgerottet. Erst das neue Jagdgesetz von 1933 verbot, zuerst in Preußen, später, ab dem 18. Januar 1934, auch in ganz Deutschland, die Jagd auf viele bedrohte Tierarten, wie z.B. den Adler. Das "Jagen" von Tieren mit Hilfe von Stahlfallen, Gift und Kunstlicht wurde verboten. Jagdaufseher durfte nur der werden, von dem man wußte, daß er gleichzeitig auch ein Tierfreund war. Diese deutschen Jagdgesetze sind seitdem von mehreren europäischen Ländern ganz oder teilweise übernommen worden.

Deutschland war auch Vorläufer auf dem Gebiet der Naturreservate, die heutzutage die letzten Rettungsinseln so mancher fast ausgestorbenen Tierart sind. Auf der Pommerschen Halbinsel Darss, in Rominten in Ostpreußen und auf der Schorfheide bei Berlin entstanden Naturreservate für Bison, Nachteulen, Birkenhühnern, Wildgänsen und die zu der Zeit ebenfalls fast ausgestorbene Graugans. Sie waren die Vorläufer der heutigen Naturreservate.

Ich habe den größten Teil meines Lebens in Holland gelebt, in einer Zeit, in der es nicht leicht war, bei anderen Verständnis für die immer gebliebene Liebe zur alten Heimat zu finden. Ich darf aber wenigstens öffentlich bekennen, daß ich gerade auf dem Gebiet, das mir so wichtig ist - dem Verhältnis der Menschen zu den Tieren - stolz darauf bin, daß Deutschland einen weltweiten Einfluss auf gute Jagdgesetze und Artenschutz hatte und wohl auch noch hat. Man denke da an die vielen deutschen Zoologen und Biologen, die sich in Afrika für das Entstehen und den Erhalt der Wildreservate eingesetzt haben. - Soviel zum Thema Jagd.

Im Sommer, der auf die winterliche Eskapade folgte, besuchte uns eine ganz andere Sorte von Tieren. Ich hatte meine Pläne vom giftfreien Garten in die Realität umgesetzt. Salat, Radieschen, Zuckererbsen, Wurzeln und Spinat hatte ich angepflanzt. Es schmeckte den Raupen und anderem Getier vorzüglich. Uns nicht so sehr, denn die Läuse ließen sich nicht aus dem Salat waschen und die Raupen im Kohl waren nicht sehr appetitanregend. Der Spinat war so winzig, daß man ihn für Gartenkresse hätte halten können. Ich bin eigentlich nie dahinter gekommen, was ich falsch gemacht habe. Ich hatte verschiedene Bücher über das Thema "Der naturgemäße Garten" gelesen und alle Ratschläge nach bestem Können befolgt, aber es hatte nicht die erwünschte Wirkung. - Wie wird man "eins mit der Natur"?
Da die biologische Gemüsezucht kein durchschlagender Erfolg geworden war, versuchte ich es im nächsten Jahr mit Obstbäumen. An der Längsseite des Graslandes, das sich links vom Haus wie ein Keil zwischen Dorf- und Provinzweg erstreckte, pflanzte ich fünfzig verschiedene Obstbäume, Pflaumen, Äpfel, verschiedene Sorten Birne und Zwetschgen. An die Südseite des Hauses wurde ein Pfirsich-Spalierbaum gepflanzt, und dort, wo erst der biologische Garten gewesen war, wurden zwanzig Kirschbäume viel zu dicht bei einander angepflanzt, was sich erst herausstellte, als sie schon groß und nicht mehr zu verpflanzen waren.

Alle Bäume blieben auch "naturgemäß", d.h., sie durften so wachsen, wie ihnen zumute war, sie wurden nie gespritzt oder hochgebunden und gestutzt. Trotzdem oder gerade deshalb trugen sie reiche Früchte. Die Nachbarn betrachteten unsere Anpflanzungen mit Mißtrauen. Wir machten in ihren Augen alles verkehrt. Obstbäume müßten schön ordentlich in Reih und Glied gepflanzt, auf Maß gestutzt und regelmäßig gegen Ungeziefer gespritzt werden. Daß die Bäume überhaupt wuchsen, war noch lange kein Beweis, daß wir etwas von Obstbau verständen, unser Obst würde wohl nichts taugen, so ungespritzt und überhaupt. Wir haben übrigens nie wurmstichige Äpfel oder Birnen gehabt. Das lag daran, daß wir die Hecke stehen ließen, in der die Vögel wohnten, die die besten Schädlingsbekämpfer waren. Mitten zwischen den Apfelbäumen prunkte später noch als Prachtstück ein Walnußbaum, der zu meinem Erstaunen schon nach ein paar Jahren die ersten Walnüsse trug. Zum Schluß kam noch zur Landstraße hin eine Haselnußhecke, die in späteren Jahren schon im frühen Frühling Haselkätzchen trug und im Herbst voller Haselnüsse war. Von denen wurden allerdings die meisten von den Haselmäusen stibitzt, die immer schneller waren als wir.

Schon gleich im nächsten Frühjahr blühten die jungen Bäumchen, daß es eine Pracht war, und als sie nach ein paar Jahren groß waren, trugen sie, zum Erstaunen der Nachbarn, Obst im Überfluß. Es klingt vielleicht unglaublich, aber ich habe zu meinen Bäumen einen fast persönlichen Kontakt gehabt. Zum Glück hat keiner von meinen damaligen Nachbarn je gehört, daß ich mich bei jedem der Bäume bedankte, wenn ich das Obst pflückte. Sie hätten mich für verrückt erklärt. Das Heranwachsen und auch das Pflücken der Früchte hatte für mich etwas Feierliches. Mir war jeder Apfel, jede Birne ein unverdientes Geschenk.

Schwieriger war es, die ergiebige Ernte auch wieder an den Mann zu bringen. In der "Katzenwelt" hatte es sich herum gesprochen, daß man einen gemütlichen Tag auf dem Land verbringen konnte, wenn man nur Interesse an den Katzen an den Tag legte. "Kann ich einmal bei Ihnen vorbei kommen? Ich möchte mich gern über die Haltung von Abessiniern (Siamesen, Orientalen) informieren." Sie kamen mit erwartungsvoller Kinderschar und brachten auch die Freunde mit oder Oma und Opa. Zu Anfang empfing ich alle Besucher, wie man Besucher empfängt. Später stellte ich Stühle in den Garten, bot Coca-Cola an und sagte: "Sie entschuldigen mich sicher, ich habe noch viel zu tun." Aber bei jedem konnte man das nicht tun.

Den Besuchern wurde nach Besichtigung der Katzen angeboten, daß sie gern Obst mit nach Hause nehmen dürften. "Wie reizend", sagten sie dann, "wo steht es?"

"Es steht nicht, es hängt am Baum und Sie dürfen pflücken soviel sie wollen."

Dann pflückten sie eine Handvoll und bedankten sich. "Nein, mehr brauchen wir wirklich nicht. Das kann man in der Stadt doch alles auch kaufen." Bezahlen ist eben leichter als pflücken. Beim Abschied sagten sie dann oft: "Ich beneide Sie, daß Sie so herrlich wohnen. Sie haben eigentlich immer Ferien."

"Aber ja, ich weiß! Und kommen sie gut nach Hause!" antwortete ich dann und bewunderte mich selbst um meine Beherrschung. Dann ging ich schnell zurück zu den Katzen, zu Honey, zu meinen Weckgläsern oder was sonst grade zu tun war.

Da hatte ich es mit den Kirschen einfacher. In den zwanzig Jahren in Ingen habe ich nicht eine reife Kirsche von unseren Bäumen gepflückt. Die hatten die Vögel schon im Morgengrauen "geerntet". Früher, in der Schule, hatte ich gelernt, daß die lieben Vöglein ihre Tage damit verbringen, daß sie das Lob des Herrn verkünden. Falsch: Kirschen stehlen sie. Komischerweise gönnte ich es "unseren" Vögeln, aber wenn, was einige Male passierte, eine Schar Krähen in der Morgendämmerung innerhalb von ein paar Minuten den ganzen Kirschgarten vollkommen leer geplündert hatte, dann packte mich eine richtige - absolut tierunfreundliche - Wut. Ich hatte die Kirschen eigentlich nicht nötig. In den umliegenden Kirschgärten, in denen man professionelle Vorkehrungen gegen die Vögel traf, gab es, wenigstens in den ersten Jahren, Kirschen im Überfluß. Welcher Urinstinkt also machte mich so böse, wenn "meine" Kirschen von den Krähen gestohlen wurden?

Das Gras wuchs so hoch, daß selbst Honey darin verschwand. Abhilfe fanden wir in Gestalt der Schafe Schneewittchen und Veronika. Sie schafften nur einen Teil der Arbeit. Deshalb kam im Jahr darauf ein junger Ramm dazu, der nicht nur mit graste. Seine Tätigkeit bescherte uns im nächsten Frühjahr die ersten Lämmchen. In späteren Jahren kam noch ein schwarzes Schaf in die Familie und so bekamen wir zu den weißen auch schwarze und schwarz-bunte Lämmchen.

Mein Mann zimmerte eine schöne Krippe und dann auch gleich einen "Bungalow", in dem die Schafe bei Regen Schutz finden konnten. Es war ein mit Teerpappe überdeckter Schuppen, der in der Mitte einen ebenfalls überdeckten Eingang hatte. Diesen Zwischenraum nannten wir die "Schafsterrasse".

Ab und zu wurde mal ein Lämmchen geboren, das von der Mutter nicht angenommen wurde. Das mußte dann mit der Flasche großgezogen werden. Honey fand das fabelhaft. Sie spielte sehr vorsichtig mit den Kleinen. Nach dem Gesetz der Prägung hätte das Lämmchen seine Schafmutter als Mutter erkennen müssen. Die hatte es immerhin als Erstes gesehen, weil wir immer erst ein paar Mal versuchten, es der Mutter anzulegen. Weit gefehlt: diese "Paplämmer", wie man die verstoßenen Lämmchen im Dorf nannte, verstanden unsere gute Sorge völlig verkehrt und sahen in uns ihre Mutter und in Honey und den Katzen ihre Spielgefährten. Wo man hinging, da wollten auch sie hingehen, und wo man blieb, da wollten sie bleiben.

Die Milch zur Aufzucht der "Paplämmer" holten wir beim "Nachbarn", das heißt, vom nächstgelegenen Bauernhof. Die Bäuerin hatte gleich zu Anfang zu mir gesagt: "Wenn Sie einmal Hilfe brauchen, dann kommen Sie ruhig zu uns. Wir sind hier sehr tolerant, auch zu Leuten, die neu sind" und nach einigem Nachdenken fügte sie noch hinzu: "..auch wenn Sie nicht zur Kirche gehen. Wir nehmen Ihnen das nicht übel, solange sie die Sonntagsruhe nicht stören, z.B. indem Sie am Sonntag im Garten arbeiten".

Daran haben wir uns gehalten. Wie oft hört man doch, wie die Stadtbewohner mit einer sicheren Überheblichkeit über die Landbevölkerung sprechen. Ich habe in der Stadt ganz sicher niemals tolerantere und großzügigere Nachbarn gekannt, als die im kleinen Dörfchen Ingen. Nicht einmal habe ich ein geringschätziges Wort unseren Tieren gegenüber gehört, niemals Kritik, weil für uns die Tiere zuerst kamen. Jeder verstand das und ließ uns das wissen. Das gab ein gutes Gefühl.

Jetzt konnte ich herrliche, frische Kuhmilch für meine Lämmchen dort holen, die ihnen vorzüglich schmeckte. Man sah die Kleinen förmlich wachsen. Sobald sie anfingen, Gras zu fressen, mussten wir sie in die Gruppe der anderen Schafe integrieren. Das war eine Geduldsprobe. Meist hielten sie sich in der Nähe der Pforte auf in der Hoffnung, daß sie hindurch schlüpfen könnten zu ihrer Menschenmutter, die sie nun auf einmal so viel allein ließ. Dann mußte man standhaft bleiben, so schwer es auch fiel. Aber eines Tages sah man dann doch, wie die kleinen "Paplämmer" mit den anderen Lämmchen spielten. Das Eis war gebrochen, sie waren Mitglieder der Schafsfamilie geworden. Trotzdem waren sie die ersten, die ankamen, wenn man "prrr" rief, was bedeutete, daß es etwas extra Gutes gab. Obst z.B. oder ein Kraftfutter, das "Biks" hieß.

Unsere Schafe waren eine der Attraktionen, die wir unseren Besuchern zu bieten hatten. Die waren sehr erstaunt, dass alte und junge Schafe so schnell angelaufen kamen, wenn jemand am Gitter stand. Unsere Schafe kannten noch kein "Böses" von den Menschen und hatten darum auch keine Angst vor ihnen.

Die Kühe des Bauern, bei dem wir unsere Milch für die Schafe holten, standen auf einer Wiese unserem Haus gegenüber. Als wir nach Ingen kamen, hatten dort viele Apfelbäume gestanden, aber inzwischen waren die meisten Baumplantagen verschwunden. Die Bauern hatten vom Staat "Prämien" bekommen, wenn sie ihre Obstbäume rodeten. Alles wurde auf Viehzucht umgestellt. In jedem Jahr gab es weniger Obstbäume und mehr Kühe. "Butterberg" und "Milchüberschuß" waren noch keine bekannten Vokabeln.

Die Kühe sahen immer so traurig aus. Ihr langes, klagendes "Muuhh" konnten wir oft tagelang hören. Erst wußte ich gar nicht warum. Später verstand ich es. Sie mußten alljährlich "kalben", aber die Kälber wurden ihnen gleich weggenommen, wenn sie die erste Milch getrunken hatten. Die erste Milch enthält nämlich viele Antistoffe gegen Krankheiten. Es ist also wichtig für die Gesundheit der Kälber, daß sie diese erste Milch bekommen. Gleich danach werden sie allerdings von der Mutterkuh fortgenommen, denn alle andere Milch ist für die "Milchproduktion", die Industrie also. Mit dem ersten Trinken (aber darüber denkt der Bauer wohl nicht nach, er kann es sich auch gar nicht leisten) entsteht das Band zwischen Mutter und Kind, beidseitig. Die Mutter ist sich des Verlustes ihres "Kindes" in weitaus größerem Maße bewusst, als wenn sie es erst gar nicht "kennen" würde. Und die tiefe Bindung zwischen Mutter und Kind brauche ich nicht auf's Neue zu beschreiben. So trauert eigentlich jede Kuh, die - nach städtischen Begriffen - so niedlich "Muuhh" ruft, um ihr verlorenes Kind. Es kann nicht schaden, darüber einmal nachzudenken.
Wenn ich die Milch für meine Lämmchen holte, sagte der Bauer ab und zu: "Wollen Sie nicht mal eben meine jungen Kälbchen sehen?" Mit liebevollem Stolz führte er mich zu den Boxen, in denen die Kälber beieinander lagen. Ich sagte erwartungsgemäß: "Ach, wie süß", und dann fragte ich: "Wann dürfen sie auf die Weide?"

"Die kommen nicht auf die Weide", sagte der Bauer, sie werden übermorgen von der Kälbermästerei abgeholt."

Ich war entsetzt: "Aber das ist doch schrecklich! Wissen Sie denn nicht, wie es da zugeht? Ich habe ein Heft von einem Tierschutzverein, darin steht das ganz genau beschrieben. Ich kann es Ihnen zeigen."
"Ja, ich weiß, aber das verstehen Sie nicht. Die Kälbermästerei bezahlt eben viel mehr Geld für die Kälber." Das sagte er, als wäre er sicher, daß er mich damit völlig überzeugt hätte. Dem konnte man nichts mehr entgegen bringen, es war ein durchschlagendes Argument. Der Bauer war weder arm noch gefühllos. Ich habe ihn in den zwanzig Jahren, in denen ich in Ingen wohnte, erwachsen werden sehen. Er war ein freundlicher und hilfsbereiter Nachbar. Er hat eine großartige Frau geheiratet und er erzog später seine drei Kinder sehr liebevoll. Er konnte seinen Kindern ein Reitpferd kaufen, er behandelte seinen Hund gut und ließ die gut gepflegten Hofkatzen zeitig kastrieren und sterilisieren. Aber er hatte einfach nicht gelernt, über die Gefühle von Kühen oder Kälbern nachzudenken, und seine Kirche lehrte ihn, daß der Mensch sich die Tiere untertan machen soll.

Ich erinnere mich noch lebhaft an einen Herbstabend in Ingen. Ich war noch eben nach draußen gegangen, nur um noch etwas Luft zu schöpfen und den Fröschen und den Grillen zuzuhören. Beim Bauern gegenüber stand ein Viehwagen. Ich sah, wie der Bauer mit drei Helfern einen Stier in die Richtung des Wagens trieb und sie dazu die - vom Tierschutz zurecht als grausam verurteilten - Stromstöcke benutzten.

Ich ging, wie zufällig, hin und sah mir das mit unbeweglichem Gesicht an. Ich wußte, daß der Bauer meine Einstellung dieser "Arbeitsweise" gegenüber genau kannte. Es geschah, was ich erwartet hatte: obschon jeder andere Bauer mich einfach fortgejagt hätte, erhob er keinen Einspruch gegen meine Gegenwart, dort wo ich in seinen Augen bestimmt nichts zu suchen hatte. Er flüsterte kurz mit seinen Helfern und dann wurden die Stöcke weggelegt und die vier starken Männer versuchten, den Stier mit nur ihrer eigenen Kraft in den Viehwagen zu treiben. Es gelang ihnen nicht. Der Stier blieb stehen wie eine Mauer und es wurde ein endloses und zermürbendes Gefecht für beide Seiten. Ohne die "wunderbaren" technischen Mord- und Qualinstrumente, die der Mensch sich erdacht hat, ist der Homo sapiens vielen Tieren gar nicht so überlegen, wie er es gern sein möchte.

Als mir bewußt wurde, daß ich dem Stier mit meiner Gegenwart nicht helfen konnte, sondern ihm sogar nur einen längeren Leidensweg besorgte, bin ich weggegangen. Aus der Ferne sah ich noch, daß die Männer ihre Stromstöcke wieder aufgenommen hatten, und innerhalb weniger Minuten war der Stier im Wagen. Für mich war das eine verwirrende und ernüchternde Erfahrung. Zum ersten Mal wurde mir deutlich, daß kein Ziel des Tierschutzes erreicht werden kann, wenn nicht die Einsichten der ganzen Menschheit sich verändern. Solange es Menschen gibt, die Fleisch essen, das auf diese Weise auf den Tisch kommt, solange darf man es dem Bauern nicht verargen, daß er es "produziert". Die Grausamkeiten am "Nutztier" kommen nicht nur auf das moralische Schuldkonto der "Produzenten", sondern zu gleichen Teilen auf das der Verbraucher. Und der Verbraucher ist nun einmal von Natur aus kein reiner Pflanzenesser.

Das ist eine der vielen Lehren, die ich in den Jahren "auf dem Lande" gelernt habe: auch die Sache mit dem Tierschutz hat seine zwei Seiten und oft ist die Seite, die wir sehen, das Spiegelbild von unseren Idealen und die Rückseite, die wir nicht sehen wollen, liegt gegrillt auf unserem Teller.

Zum Beispiel waren da noch unsere Hühner. Daß wir die auch noch hatten, das kam so: Längst war es uns deutlich geworden, daß in Tiergärten, in Kreisen von Züchtern Fleisch fressender Tiere, in jener Zeit hauptsächlich ein Futter verbraucht wurde, das uns erst ziemlich merkwürdig vorkam. Auch dieses "Tierfutter" hängt mit den menschlichen Eßgewohnheiten zusammen. Hühnerfleisch, früher ein Genussmittel, war längst Teil des normalen Fleischkonsums geworden. Die Hühnerzucht war zur Industrie geworden. Noch war die Bioindustrie nicht das, was sie heute ist, eine Ansammlung von Tierfabriken, sondern es gab riesige Hühnerfarmen, die sowohl vom Fleischkonsum als auch von der steigenden Nachfrage nach Eiern profitierten. Heute würde diese Form der Hühnerhaltung noch den Titel "artgemäß" erhalten, weil die Hühner nicht in zu kleinen Stahlkäfigen, sondern in riesigen Scheunen (selten mit anschließenden Freigehegen) gehalten wurden. Solche Hühnerkolonien beherbergen natürlich eine große Zahl von Hühnern und nur einige Hähne.
Die Eier wurden und werden auch nicht von den Hühnern selbst ausgebrütet, sondern in Brutmaschinen, die in Reihen in den Brutanstalten stehen. Wenn die Küken schlüpfen, werden sie am laufenden Band sortiert. Es gibt Sorten, die nur zum menschlichen Konsum gezüchtet werden, bei denen werden auch die Hähnchen verwertet, aber die Hühnchen der Legesorten werden in Transportschachteln getan, in denen sie zum Käufer im In- oder Ausland transportiert werden. Die Hähnchen der Legerassen werden gleich nach dem Schlüpfen getötet. Diese Hähnchen sind "Abfall", der höchstens noch als Tierfutter verwendet wird. Sie werden zu Dosenfutter für Hunde und Katzen verarbeitet oder an Tiergärten, Pelztierfarmen usw. verkauft. Manche Tierfutterläden verkaufen die Küken tiefgefroren per Kilo.

Wer aber eine solche Brutanstalt in der Umgebung kennt, kann sie dort auch "frisch" abholen. Damit vermeidet man Gefahren, wie Salmonellenbefall aus der Tiefkühltruhe.

Das Verfüttern von jungen Küken ist absolut gewöhnungsbedürftig. Im Anfang sieht man in jedem toten Küken noch das süße, kleine Küken. Aber das legt sich nach den ersten paar tausend, die man verfüttert hat. Wer denkt schließlich noch nach beim gegrillten Brathähnchen? Wer, außer den Vegetariern, philosophiert beim Studieren der Speisekarte über das Recht auf Leben? Nur die Natur ist konsequent, wir Menschen haben Ideologien, die unserer Natur nicht entsprechen.

Katzen sind Fleischfresser, so sind sie gemacht. Und die Eintagsküken, so wurde uns damals versichert, waren ein weitaus vollkommeneres Futter, als das Dosenfutter, das noch nicht so wissenschaftlich zusammengestellt war, wie es heutzutage ist. Also hatte ich mich über eine zuverlässige Adresse informiert, wo alles hygienisch und vom Tierarzt und sogar vom Tierschutz kontrolliert wurde, und als ich sie bekommen hatte, holte ich dort regelmäßig größere Portionen junger, geschlachteter Hähnchen in einem Dorf nicht weit von der deutschen Grenze. Das war zwar dreiviertel Stunden Autofahrt hin und wieder zurück, aber es hatte seine Vorteile. Ich machte auf dem Hinweg einen Abstecher über die Grenze. Da, in Emmerich, tätigte ich ein paar Einkäufe von Sachen, die man hier zu der Zeit nicht, oder nach meiner Meinung nicht in gleicher Qualität, bekommen konnte. An manche Nahrungsmittel hier hatte ich mich nie gewöhnen können, das Brot z.B. Ich holte ich mir immer einen kleinen Vorrat deutsches Brot. Dann holte ich meine Hähnchen für die Katzen und fuhr beladen und bepackt nach Hause. Wir hatten ein paar große Tiefkühltruhen, darin wurden die Hähnchen eingefroren aufbewahrt.

Eines Tages allerdings hatte ich auf dem Heimweg ganz deutlich das Gefühl: "Bei mir piept's!" Ich mußte auf den Verkehr achten und ließ es erst einmal piepen. Zu Hause angekommen stellte sich dann heraus, daß der den Eigentümern der "Brut-Fabriken" vom Tierschutz vorgeschriebene Apparat zum Einschläfern der Küken nicht ganz unfehlbar war. Als ich mich umsah, liefen da ganze Scharen von lebenden Küken im Auto herum. Jedenfalls, so schien es auf den ersten Blick. Bei näherer Kontrolle entdeckte ich dann neunundzwanzig lebende Küken!

Was tun? Tote Küken (oder Hühner, Tauben, Truthähne oder gar Teile von toten Rindern oder Schweinen) zu kaufen ist zur Gewohnheit geworden, aber sie töten, das ist etwas ganz anderes. Es ist unmöglich, ein Küken zu töten, wenn man es einmal in Aktion gesehen hat, jedenfalls für den Normalverbraucher. Vielleicht hätten die Wildkatzen ihren Urinstinkt entdeckt, wenn ich es darauf hätte ankommen lassen, ich weiß es nicht. Selbst der Gedanke kam damals nicht in mir auf.

Der zufällig zu einer Reparatur anwesende Schreiner wußte Rat. Er fabrizierte mir eine Art Mini-Arena für die Küken. Er machte aus Faserkarton einen Ring von etwa zwei Metern Durchmesser und montierte eine Brutlampe in der Mitte darüber. Die Küken waren gerettet. Sie wurden mit spezialem Kükenfutter ernährt und wuchsen zu 28 schönen, jungen Hähnchen heran. Der neunundzwanzigste Hahn entpuppte sich als Hühnchen. Auch auf dem Gebiet war also eine Fehlerquote möglich. Das Hühnchen wurde Amalia getauft, die Hähnchen bekamen keine Namen. Man konnte sie auch kaum unterscheiden. Als sie etwa sechs Wochen alt waren, fingen sie an zu streiten und sich gegenseitig zu verletzen, bis zu unserem Entsetzen das erste Schlachtopfer fiel. Ein Nachbar wurde zu Rate gezogen und hatte ernüchternden Kommentar zu unserem Traum von 28 schönen, friedlichen Hähnchen, denen wir auf unserem Hof ein geschütztes Leben bereiten wollten. Seine Lösung war rigoros aber in Wirklichkeit human dem gegenüber, was den Hähnchen geblüht hätte, wenn wir sie zusammen gelassen hätten. Sie hätten sich im Kampf eins nach dem anderen zerfleischt, bis der Stärkste übrig geblieben wäre. Auch das war wieder eine Lehre über die Diskrepanz zwischen unseren Idealen und den Gesetzen der Natur.

Eins der Hähnchen durfte als Lebensgefährte von Amalia am Leben bleiben. Er war später allerdings ein so feuriger Liebhaber, daß Bekannte mich deswegen der Tierquälerei bezichtigten und mir eilends zur Ablenkung des Macho-Hahnes ein paar Zwerghühner brachten. Es waren prächtige Tiere in allen Farben, goldfarbige, die fast wie kleine Fasanen aussahen, rot bunte und schwarz-weiße. Sie flogen bis in die höchsten Gipfel der Bäume ringsum. Wir weigerten uns, ihre Flügel zu stutzen, wie man uns geraten hatte, und so war es nicht selten eine Überraschung für unsere Besucher, wenn sie hier und da auch noch Tiere in unseren Bäumen sitzen sahen. Die hohen Balken im sechseckigen Heuschober waren ihre bevorzugten Schlafplätze. In jedem Frühjahr regnete es Überraschungen, wenn aus irgendeinem Versteck eins der Hühner, das wir eine Zeitlang nicht gesehen hatten, mit einer Schar von kleinen Küken zum Vorschein kam. Die Nachkommen von Amalia mischten sich frei mit denen der Zwerghühner und produzierten so die schönsten Hühnervariationen. Manche verwilderten etwas, andere allerdings wurden sehr zahm und ließen sich aus der Hand füttern. Manche flogen auf meine Schulter und ließen sich so herumtragen. Einzelne taten das sogar bei Fremden. Für meine Enkelkinder war es eine Attraktion während eines Besuches bei uns, die zahmen Hühner zu füttern.
Wenn die Hühner brüteten, konnte man ihnen besser nicht zu nahe kommen. Das hatte ich gleich bei der ersten brütenden Henne entdeckt. Sie hatte ihre Eier ausgerechnet auf den in meinen Augen unbequemsten und kältesten Platz im ganzen Heuschober gelegt, grade dort, wo es durch eine Ritze zog. Ich wollte der Henne helfen und brachte eine handvoll Heu, das ich ihr unterschieben wollte. Gleich flog das Huhn auf und attackierte mich. Dabei hatte es ganz deutlich meine Augen zum Ziel. Ich hielt den Arm vor mein Gesicht und schrie unwillkürlich. In der nächsten Sekunde, so schien es, stand schon Honey neben mir. Gerade eben noch war sie am äußersten Ende der Wiese gewesen. Mit ihrem lauten Gebell jagte sie das Huhn zurück. Ich war gerettet.

Noch lange danach ging Honey keinen Schritt von meiner Seite, wenn ich zu den Hühnern ging. Keines durfte in meine Nähe kommen, wenn Honey dabei war.

Die meisten der Hühner brüteten nicht im Stall oder unter dem Heuschober. Die verschwanden einfach für eine Zeitlang irgendwo im Strauchgewächs und kamen dann nach einigen Wochen auf einmal mit einer ganzen Schar von bunten Küken zum Vorschein. Da Hühner sehr früh "erwachsen" werden, vermehrte unser Hühnerbestand sich auf diese Weise automatisch und einigermaßen unübersichtlich. Die meisten kamen am Abend, wenn ich Futter ausstreute, zum Stall. Auch im Sommer, wenn die Hühner genug Grassamen und herab gefallene Früchte finden konnte, mußte man sie füttern, weil man sie dadurch daran gewöhnte, beim Haus zu bleiben. Das wußte ich noch von meinen Schulferien auf dem Bauernhof. In der Nacht schliefen sie Seite an Seite auf den Balken des Heuschobers. Aber manche schliefen auch in den Ästen der Bäumen rundherum.

Die Gänse kamen erst später. Eines Tages sagte der junge Mann, der die Katzenräume sauber hielt: "Wissen sie eigentlich, wie viele Hühner Sie haben?"

"Nein", sagte ich, "Ich habe keine Ahnung."

"Dann merken Sie wohl auch nicht, wenn eins fehlt? Ihre Hühner sind so zahm, daß verschiedene Leute hier am Ende des Dorfes nicht selten einen gratis Sonntagsbraten haben. Die laufen denen ja förmlich in die Arme."

Tatsächlich wurden die Hühner immer zahmer. Sie zeigten auch vor Fremden keine Furcht. Als ich etwas besser aufpaßte, merkte ich auch, daß manchmal gerade eins der zahmsten Hühner verschwunden war. Aber das war ich gewohnt, weil sie schließlich auch zum Brüten oft wochenlang verschwanden. Jetzt wußte ich also, daß es auch eine andere Möglichkeit gab.

Honey konnte sie nicht in der Nacht bewachen. Nach der traurigen Erfahrung mit unserer ersten Honey ließen wir sie auch tagsüber nie unbeaufsichtigt herumlaufen. Also beschlossen wir, eine Leibwache für die Hühner anzuschaffen. Wir fingen mit zwei Gänsen an, einem Pärchen. Der Rest läßt sich erraten. Schon im ersten Frühjahr brütete Mutter Gans. Gänsemütter sind sehr sorgsam. Wenn man sie gewähren läßt, dann bleiben sie die ganze Zeit auf ihren Eiern sitzen, ohne auch nur einmal zum Futterplatz zu gehen. Zum Glück war unsere Gans so zahm, daß man ihr Futter und ein Schälchen mit Wasser in Reichweite vor den Schnabel setzen konnte, ohne attackiert zu werden.

Die Gans blieb auf den Eiern sitzen, bis auch das Letzte ausgebrütet war. Aber nicht alle Gänseküken krochen gleichzeitig aus. Die zuerst ausgebrüteten Gänsekinder wurden von Papa Gänserich betreut. Er nahm sie mit auf die Wiese, wo sie Gras und gefallenes Obst finden konnten. Wenn wir an warmen Sommerabenden noch eben im Garten saßen, mußten wir immer ein paar Scheiben Brot dabei haben. Die Bröckchen nahmen sie aus der Hand, das gehörte zum Ritual.

Wenn fremde Leute in die Nähe kamen, dann schnatterten sie herzzerreißend. Wer auf das Gelände kam, konnte sich besser nicht vor Gänsedrohgebärden fürchten. Gänse als Wachen, das hatte es schon im alten Rom gegeben.

Es war alles schön und schade zugleich. Als wir Pläne machten, nach Ingen zu ziehen, hatten wir an mehr Raum für uns und die Katzen gedacht. Jetzt hatten wir Raum im Überfluß, aber Zeit war Mangelware geworden. Allerdings, es würde uns hier bestimmt niemand der Tiere wegen behelligen; wir wohnten schließlich in der "Agrarzone", da war es ganz natürlich, Tiere zu halten. Aber was die Katzen betraf, so hatten wir intime Nähe gegen Sicherheit eingetauscht. Nur so wie in Arnheim, wo wir mit den Katzen ein geschlossenes Familienleben hatten, wurde es nicht mehr. Die Zeit, meine Katzen selbst zu füttern und eben mit ihnen zu reden, ließ ich mir aber nicht nehmen, und so bin ich sicher, daß uns bei aller Zeitknappheit die Liebe für einander nie abhanden gekommen ist.

Als Honey zwölfjährig an Leberkrebs erkrankte und wir sie zuletzt einschläfern lassen mußten, um ihr weiteres Leiden zu ersparen, überlegten wir: sollten wir den Züchter anrufen und eine Nachfolgerin für Honey bestellen?

Noch ehe wir einen Entschluß fassen konnten, spielte das Schicksal uns die Entscheidung zu. Wir hörten, dass in einem Doggenkennel, nicht weit von Ingen, eine Dogge "billig" (was bei Doggen so billig heißt) abgegeben würde, die etwa fünf Jahre alt sei. Sie wäre nicht mehr zur Zucht geeignet und der Züchter würde sie einschläfern lassen, wenn er sie nicht verkaufen könnte. Ich beschloß dorthin zu fahren und mir das Tier anzusehen.

Welch ein Unterschied zwischen diesem Kennel und dem so gut versorgten, aus dem wir unsere beiden Honeys geholt hatten! Der "billige" Preis für ein so abgelebtes Tier war zu hoch, aber ich bezahlte ihn sofort und nahm Kim gleich mit. Kim hatte erst einmal eine wahnsinnige Angst vor Händen. Wenn man sie streicheln wollte, zuckte sie zusammen, als ob sie Schläge erwartete. Gleich am nächsten Tage gingen wir mit ihr zum Tierarzt. Der konstatierte, daß sie eine Gebärmutterentzündung, Brustwarzenentzündung, entzündete, schmutzige Ohren, Würmer und Flöhe hatte. Er gab ihr eine Penicillinkur und verschiedene andere Medizin und stellte einen Nahrungsfahrplan für sie fest, mit Hilfe dessen sie wieder zu Kräften kommen sollte. Aber er warnte uns: "Erwarten Sie nicht zu viel. Die Infektionen werde ich wohl heilen können, aber ich kann Ihnen Ihre Kim nicht jünger machen. Sie ist weit älter als fünf Jahr alt und vollkommen verbraucht."

Von Anfang an liebte Kim die Katzen. Mit einer von ihnen, der lavendelfarbigen Artemis, befreundete sie sich ganz besonders. Artemis war als erste zu Kim gegangen und hatte sich gleich neben sie gelegt. Ich denke, daß es auch Artemis war, die Kim über ihre anfängliche Angst vor Menschen hinweg geholfen hat.

Als Kim alle Medizin und alle Impfungen überstanden hatte, wußte sie bereits, daß wir es gut mit ihr meinten. Ihre Angst verwandelte sich in eine maßlose Liebe. Wenn sie sich auf ihrem weichen Lager ausstreckte, dann stieß sie einen tiefen Seufzer aus, so wie jemand, der eine lange Strecke gelaufen ist und jetzt heimkehrt. Nur zwei Jahre lang haben wir Zeit gehabt, ein wenig von dem gut zu machen, was ihr im Kennel angetan war. Eines Tages war mein Mann, wie immer am Abend, mit ihr spazieren gegangen und, ebenfalls wie immer, lief Kim ihm auf dem Rückweg voraus zur Tür. Mein Mann kam hinterher. Im Wohnzimmer hörte ich ihn ankommen und wollte gerade zur Tür gehen, da rief er: "Maria, bitte hilf mir, Kim kann nicht mehr aufstehen." Als ich die Tür öffnete, sah ich sofort, daß Kim tot vor der Tür lag. Sie hatte einen Herzschlag erlitten, ihr verbrauchter Körper hatte den Kampf aufgegeben.





Das war unsere letzte Dogge. Wir hatten nicht den Mut, noch einmal so etwas durchzumachen. Eigentlich wollten wir gar keinen Hund mehr, aber es kam dann doch noch einer. Ein Mischling, der im Tierheim saß und schon viermal wieder zurück gebracht war, weil er nicht leicht zu erziehen war. Als ich ihn beim Tierarzt impfen ließ, fragte ich: "Was für Rassen stecken wohl hinter diesem Mischling?" und er antwortete: "Wenn sie mich so fragen, alle."

Diese Hundedame hieß Duschka und war gar nicht so schwer zu erziehen, wie von ihr gesagt worden war. Nur hatte sie scheinbar schlechte Zeiten gekannt, denn sie stahl alles was eßbar war, selbst als sie bei uns schon viel zu dick geworden war. Das Fressen lag ihr einfach im Blut.

Nichts war vor ihr sicher: Schokolade mitsamt der Verpackung, Mayonnaise mitsamt einem Stück der Tube. Als ich das entdeckte, ging ich mit ihr zum Tierarzt: "Kann das nicht schaden?" und er sagte: "Ihr nicht, die ist das gewohnt." Ab und zu lief sie einfach weg und dann mußten wir das ganze Dorf nach ihr absuchen. Sie hatte nichts Edles an sich, wie unsere Doggen gehabt hatten, sie war im wahrsten Sinne des Wortes "ein armer Hund". Es hat uns nie leid getan, daß wir sie vor dem "Einschläfern" im Asyl gerettet haben und ihr noch ein paar gute Jahre gegeben haben. Sie war für alles dankbar und liebte uns und die Katzen heiß und innig.

Wie schnell doch alle diese Jahre vergangen sind! Nach den langen Tagen der intensiven Beschäftigung mit Menschen, Tieren und Pflanzen in Ingen gab es keine Schlafprobleme. Wenn man trotzdem einmal in der frühen Dämmerung wach wurde, sang ganz nah vor unserem Fenster eine Nachtigall. Es war die erste Nachtigall, die ich in meinem Leben gehört hatte. Erst dachte ich sogar, daß ich mich geirrt hätte, daß ich vielleicht einen ganz anderen Vogel gehört hatte, eine Lerche vielleicht. Die gab es genug in den umliegenden Feldern und Weiden. Bis ich dann einmal ganz zufällig eine Radiosendung hörte, die über Vogelstimmen berichtete. Auf einmal hörte ich die Stimme "meiner" Nachtigall, zart und geheimnisvoll. Meine Vermutung war bestätigt: "Es war die Nachtigall und nicht die Lerche."

Daß wir eine Nachtigall oder Nachtigallen hatten, war nicht so erstaunlich. Nachtigallen bevorzugen Brutplätze dort, wo es viel Brombeeren und Brennnesseln gibt. Wir hatten viele Brombeersträucher, die uns mit noch mehr Früchten für Marmelade beschenkten, und Brennesseln gab es gerade etwas zu viel bei uns. Erst waren es ein paar, die wir mit Stumpf und Stiel auszurotten versuchten. Aber Brennnesseln haben Wurzelstöcke und etwas davon bleibt immer hängen und sie vermehren sich in erschreckender Zahl. Sie drohten das Grasland zu überwuchern, das wir jetzt dringend für die Schafe brauchten.

Die Schafe fraßen keine Brennesseln, so wurde das Verhältnis Gras zu Brennesseln immer mehr zugunsten der Brennesseln verschoben. Da half kein Naturbewußtsein, nur die so verpönte Chemie. Das ist wieder der Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Wir hatten einfach die Wahl zwischen den Schafen und den Brennesseln. Nur die Brennesseln an der Seite des Hauses, wo der Pfirsich-Spalierbaum stand, gleich unter dem Schlafzimmerfenster, störten niemand, die blieben stehen. Dort grasten keine Schafe. Die Nachtigall hat noch lange ihr Lied vor unserem Fenster gesungen.

Im letzten Jahr ist sie auf einmal im Frühjahr nicht zurückgekommen. Vielleicht ist sie, wie Millionen anderer Zugvögel, ein Schlachtopfer der italienischen "Jäger" geworden. Internationale Gruppen von Vogelschützern, darunter viele junge Deutsche, führen einen vergeblichen Streit gegen den Vogelmord. Es ist eine schwierige Aufgabe, die sie sich gestellt haben. Manche Vögel können sie befreien, darunter auch Nachtigallen. Jedes kleine Leben ist der Mühe wert, aber die Arbeit der Tierschützer wird durch die dortige Bevölkerung und sogar durch die "Carabinieres" sehr erschwert. Sie müssen sich heftigen Aggressionen aussetzen, bis hin zu tätlichen Angriffen. Ein deutsches Fernsehteam, das die Arbeit der jungen Tierschützer filmen wollte, wurde sogar von den "Carabinieres" In Haft genommen.

Die vielfältigen Aufrufe der Vogelschützer, doch Italien als Ferienland so lange zu boykottieren, bis dieses Gemetzel eingestellt wird, verhallen genau so ungehört wie die der Tierschützer, die dazu aufrufen, Spanien zu Boykotten, so lange es dort Stierkämpfe gibt, oder die Länder, in denen noch Tanzbären mit grausamsten Mitteln zu ihren Qual-Tänzen gezwungen werden oder China, wo Bären erst ausgehungert und dann zu grausamen Kämpfen aufeinander losgelassen werden, um sich, zum Vergnügen der Zuschauer zu zerfleischen (Quelle WSPA u.a.)

Handelsboykott, Touristenboykott als Druckmittel?

Handel muß sein, sagt man sich und was die Ferien betrifft:. ..."Also wirklich, wir können uns doch unsere bitter nötigen Ferien nicht für ein paar Tiere verderben lassen!" ...

Nein, das gebe ich zu, das wäre wirklich im wahrsten Sinne des Wortes UNMENSCHLICH !

In Gedanken höre ich sie noch manchmal, "meine" Nachtigall, wenn ich in der Nacht an das alte Haus in Ingen denke. Sie singt ein Lied vom Heimweh.



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