Kapitel 01 - Margaytje

War es Glück oder nur Zufall, dass das Schicksal mir das Vorrecht gegönnt hat, die südamerikanischen Tigerkatzen kennen lernen zu dürfen?

Ich weiß es nicht.

Mit ihnen habe ich vieles erfahren, das einzigartig ist und sich wohl kaum irgendwo auf der Welt in dieser Form wiederholen wird.

Diese Wildkatzen stehen längst auf der Liste der bedrohten, leider nicht auch auf der Liste der beschützten Tierarten. Sie leben oder lebten in den Urwäldern von Ecuador, Bolivien und Brasilien. Mit jedem Quadratmeter Regenwald vermindern sich ihr Lebensraum und ihre Überlebenschancen als Art drastisch. Meine so seltsamen Erfahrungen mit ihnen verpflichten mich geradezu von der Zeit zu berichten, wo sie, später mit noch manchen anderen Tieren, Teil unserer Familie waren.

Ich habe sechzehn Jahre mit den Wildkatzen zusammen gelebt und finde, dass sie verdient haben durch meine Geschichte fortzubestehen, wie sie in meiner Erinnerung immer noch leben.

Zur Verwirklichung dieser Aufgabe stehen mir zwei Mittel zur Verfügung: die Fotos, die ich damals gemacht habe und meine Erinnerungen, die durch alte Tagebucheintragungen und durch das gute Gedächtnis meines Mannes unterstützt werden.

Ich hoffe sehr, daß ich die richtigen Worte finden werde um denen, die dieses lesen, das Wunder erklären zu können, das ich mit meinen zahmen Wilden erlebt habe. Sie waren nicht nur faszinierend schön, sie hatten auch Persönlichkeit, Intelligenz, Anpassungsfähigkeit und einen absoluten Realitätssinn.

Ich schreibe dies alles aber auch zum Andenken an alle die Tiere, die mir mein Leben lang die besten Freunde und Weggenossen waren. Sie alle haben meinem Leben Inhalt gegeben und von ihnen habe ich mehr über die Schöpfung gelernt als aus allen Büchern während und nach meiner Schulzeit.

Angefangen hat das alles im Jahre 1951 mit einer ganz normalen Hauskatze, die wir uns anschafften, weil unsere Kinder so gern ein Kätzchen haben wollten. Auf dem "Hoogkamp" in Arnheim wurde ein junges Katerchen angeboten. Der Hoogkamp war für uns am anderen Ende der Stadt. Wir fuhren hin und holten das sehr junge Tierchen in einem Haus an der "Jacob Marislaan" ab. Genau in dieser Straße, schräg gegenüber der Geburtsstätte unseres ersten Katerchens, sollte sich später die Geschichte abspielen, die ich erzählen will.

Der kleine Kater war einer dieser Straßenschönheiten, grau getigert mit weißem Lätzchen und Pfoten. Aber wir fanden ihn schön und nannten ihn großzügig "Tiger".

Als wir vier Jahre später ein Haus an der Jacob Marislaan bezogen, ging Tiger mit und war ganz selbstverständlich gleich dort zu Hause. Er war ein gutes Vorbild dafür, dass die Annahme, dass eine Katze sich nur an das Haus und nicht an die Menschen gewöhnt, falsch ist.
Bald hatte Tiger eine Frau gefunden, "Snoesje" hieß sie, was soviel heißt wie "Süße". Sie kam und blieb und bekam gar bald zwei noch süßere Kinderchen.
Wir waren zu der Zeit auf dem Gebiet der Katzenhaltung noch nicht viel gewohnt und vier Kätzchen erschienen uns absolut zu viel. Also rief ich den Tierschutz an: ob man nicht ein gutes Heim bei lieben Menschen für zwei reizende kleine Katzenbabys wisse. Die Tierschutzdame erkundigte sich ausführlich danach, wie wir die Kätzchen wohl versorgten und als sie alles gehört hatte, vom Hackfleisch bis zu den Vitamintropfen, verabschiedete sie sich mit ein paar freundlichen Worten und ließ vorläufig nichts mehr von sich hören. Es gab wohl Tiere, die ihre Sorge dringender nötig hatten. Aber das alles musste ich erst später lernen.

Die beiden Kinder von Tiger und der Süßen blieben also bei uns und wurden "Fleckje" und "Leeuwtje" getauft. (Leeuw ist holländisch für Löwe.) Nach einer Weile hörte ich dann doch wieder etwas von der Tierschutzdame. Im Park Sonsbeek sei so ein armes, verwahrlostes Kätzchen gefunden worden. Das Tierheim wäre voll und das Tierchen würde wohl eingeschläfert werden müssen, wenn man keine Bleibe dafür fände. Ob ich es nicht "für eine ganz kleine Weile" aufnehmen könnte, bis eine passende Adresse für es gefunden sei? Wer kann da schon "nein" sagen? Das Katerchen war plump, ungleichmäßig gezeichnet, struppig, kurz gesagt, das genaue Gegenteil von einer Schönheit. Aber grade das gab ihm etwas Rührendes. Es wurde von einer Tierschutzdame gebracht, die Frau Reinemann hieß und in unserer Nähe wohnte. Sie gehört zu den Schicksalsfiguren dieser Geschichte. Das Katerchen nannten wir "Scampolo".

Frau Reinemann brachte uns später auch den schwarzweißen "Panda", der so sanft und anhänglich war und die fröhliche "Pückie", die erste Katze in unserem Haushalt, die Türen öffnen konnte, indem sie auf die Türklinke sprang. Panda wollte ihr das nachmachen, aber er hatten den Kniff nicht im Griff. Er sprang vor der Tür herum, wenn er heraus wollte, aber das funktionierte nicht. Ab und zu kam Pückie ihm zu Hilfe.

"Romy", die wir so nannten, weil sie ein so liebes, freundliches Gesichtchen hatte, fand ich selbst im Tierheim, das ich inzwischen wöchentlich besuchte.

Sie stand auf der "Einschläferliste", wobei man mir das Wort "einschläfern" vergeben möge. In Wirklichkeit geschah das "einschläfern" mit sehr schmerzhaften Strychnin-Injektionen, die aber billig waren. Dass ich dagegen protestierte, brachte mir Streit ein und ich verhielt mich weiter still, weil man drohte, mir sonst den Zugang zum Tierheim zu verweigern.

Im Frühjahr 1960 waren wieder einmal alle Käfige im Tierheim voll besetzt mit "einzuschläfernden" Katzen, hauptsächlich Mutterkatzen mit Jungen.
Gleich als ich herein kam, sah ich im obersten Käfig eine tote Katze mit zwei Jungen, die vergeblich bei der toten Mutter zu trinken versuchten. Auf dem Steinfußboden krabbelte noch ein ganz kleines Tierchen herum, das wohl aus einem der Käfige gefallen war. Ich nahm die zwei aus dem oberen Käfig und legte sie "so lange" zu einer der anderen Mutterkatzen.
Den Kleinen vom Fußboden nahm ich auf und steckte ihn in meinen Mantel. Er war etwa vier Wochen alt. Den Tierarzt, der grade kam, fragte ich: "Wie kann ich den am besten füttern, um ihn groß zu kriegen?" - "Lassen sie den nur hier" sagte er "der geht ihnen doch ein."

Also nahm ich den Kleinen mit und fütterte ihn, sehr unsachgemäß aber mit Erfolg mit einer Diät aus gehacktem Steak und Sahne und hatte danach in ihm für achtzehn Jahre den treuesten Freund, den je ein Mensch gehabt hat. Wir nannten den kleinen Kater "Jantje".

Inzwischen war ich längst Mitglied beim Tierschutz geworden und der Kontakt mit den beiden Tierschutzdamen war unvermeidlich. Sie berichteten mir treu wann dringend Hilfstruppen für die Kollekte am 4.Oktober gesucht wurde oder wenn jemand mit Auto gebraucht wurde, weil irgendwo ein Kätzchen, ein Hund oder ein Meerschweinchen in mehr oder weniger beschädigtem Zustand abgeholt werden musste.

Frau Reinemann war es auch wieder, die eines Tages einen wunderschönen, roten Kater fand, der - so war aus dem Fundort und seinen Verwundungen ersichtlich- am verkehrsreichen "Amsterdamerweg" überfahren worden war. Ein Bein war gebrochen. Es war zu spät für eine Operation, also lief er weiter, etwas hinkend aber trotzdem unbehindert, durchs Leben - natürlich in unserem Haushalt!

Inzwischen könnte man natürlich fragen, was das denn für eine Familie sei, die einen so rapiden Zuwachs des Katzenbestandes im Haushalt duldet. Nun, das war mein sehr tierliebender Mann, die Tochter Marion, der Sohn Freerk und ich. Die beiden Kinder waren wohl auf dem Gebiet der Tierliebe erblich belastet.

Soweit die Vorgeschichte. Der tatsächliche Anfang spielte sich in der ersten Dezemberwoche des Jahres 1960 ab, genau gesagt am 5. Dezember, dem holländischen Nikolaustag. An diesem Tag kam nämlich Frau Reinemann wieder einmal mit einem Kätzchen zu uns, das ich aufnehmen sollte.

Ich sehe sie da noch sitzen, auf dem Sofa. Den Mantel hatte sie nicht ausgezogen, denn darin versteckte sich etwas das ich erst für ein Plüschtier hielt. Merkwürdigerweise hatte Frau Reinemann sogar ihre Handschuhe angelassen, als sie in unser Wohnzimmer kam. Mit behandschuhten Händen holte sie nun das Fellbündel aus ihrem Mantel und hatte einen kleinen Winzling in den Händen, der wütend kratzte und in ihre Handschuhe biss. Sie ließ das kleine, fauchende Etwas los und es flog verängstigt unter ein Kissen in der Ecke des Sofas, auf dem Frau Reinemann saß. "Ich habe da ein Kätzchen gefunden" sagte sie etwas matt, und ich: "Kätzchen ist gut! Was ist das in Himmels Namen? Ein Miniaturpanther?" Ich sah noch ein Stück Fell unter dem Kissen hervorgucken. Goldgelb war es, mit schwarzen Ringen.

Jetzt hörte ich die Geschichte: Frau Reinemann war in ihrer Funktion als Tierschutzkontaktperson angerufen worden und hatte gehört, dass man irgendwo eine Katze abholen sollte, die auf einem ungeheizten Dachboden gehalten würde. Sie war von einem Matrosen aus Südamerika mitgebracht worden, aber die Eltern des jungen Mannes wollten sie nicht mehr haben. Sie wäre bösartig, hatte man gesagt und außerdem wollte sie nicht einmal Milchbrei fressen. Mit viel Mühe hatte Frau Reinemann das Tierchen eingefangen und brachte es nun zu mir, da ich ja sowieso im Ruf stand, ein Katzennarr zu sein.

"Ich will versuchen, ob ich mit ihr fertig werde" versprach ich. "Aber ob ich sie behalten kann, hängt davon ab, wie sie sich mit meinen anderen Katzen verträgt."

Mit sichtlicher Erleichterung ging Frau Reinemann fort und gab mir nur noch den Rat, die kleine Furie nicht ohne Handschuhe anzufassen.

Nun trage ich grundsätzlich keine Handschuhe im Wohnzimmer. Also zog ich unbewaffnet und wehrlos das Kissen von dem "wilden Tier" herunter. In diesem Augenblick sah ich zum ersten Mal eine Tigerkatze.

Sie saß da, winzig klein, wie erstarrt, fauchte auch nicht mehr, sie war nur die verkörperte Angst. Ich hatte auch keine Zeit, sie zu bewundern, erst musste ich ihr Gelegenheit geben, mich kennen zu lernen.

Ich hielt ganz vorsichtig meine Hand in ihre Nähe. Sofort ging sie jetzt zum Angriff über, kratzte, blies, fauchte, biss in die Hand. Aber das merkwürdige Ding, das da vor ihr lag, rührte sich nicht. So setzte sie sich hin und besah und beschnüffelte meine Finger, dann gingen ihre Augen an meinem Arm entlang und über die ganze Gestalt, die daran fest saß. Und was sie da sah, musste sie einer gründlichen Untersuchung unterziehen. So richtete sie sich auf, saß auf den Hinterpfoten und schaute von rechts nach links und wieder zurück mit einer Bewegung, wie man sie bei den Bären im Zoo beobachten kann, wie ein Metronom, nur langsamer. Diese "Beobachtungshaltung" habe ich später bei meinen Tigerkatzen immer wieder wahrgenommen.

Jetzt endlich konnte ich mein neues "Kätzchen" gut ansehen. Ihr Fell war goldgelb, am Bauch mehr cremefarben und überall ganz gleichmäßig gefleckt. Die Zeichnung am Kopf war eigentlich genauso wie die von allen getigerten oder gefleckten Katzen, mit der M-förmigen Zeichnung auf der Stirn, wie alle getigerten Katzen, wild oder zahm, sie haben. Sie hatte runde, kleine Öhrchen mit einem weißen Fleck auf der Rückseite, wie die Tiger ihn haben. Ihre Augen waren warmbraun und vom ersten Augenblick an fiel mir auf, wie intelligent sie dreinschauten.

Ich habe versucht, meine erste Tigerkatze nun ganz nüchtern zu beschreiben. Was ich allerdings nicht ausdrücken kann, ist die Ausstrahlung, die von diesem winzig kleinen Tier ausging. Ein Hauch von Urwald war es, eine Kombination von Wildtier und hilfloser Kreatur, ein Stückchen Urschöpfung, die mir bisher verborgen geblieben war. Ich habe später bei vielen anderen, die sie oder auch meine anderen Wildkatzen sahen, dieselbe Reaktion wahrgenommen. Sie war eine atemberaubende Winzigkeit.

Viel Zeit zum Bewundern gab es vorläufig nicht. Es war klar, dass unser Gast erst einmal etwas Nahrhaftes bekommen musste und ganz sicher keinen Milchbrei. Eines der Kinder holte rohes Rindfleisch: Vitamintropfen waren im Haus. Das Fleisch wurde in kleine Würfel geschnitten (sehr überflüssigerweise, wie sich später herausstellte) und die Vitamintropfen darüber getröpfelt.

Das Ganze wurde auf ein Tellerchen gelegt und auf den Fußboden gestellt. Und dann hörten wir zum ersten Mal den Ruf einer kleinen Tigerkatze! Ich habe seither oft und vergeblich versucht diese Stimme zu beschreiben. Immer wieder komme ich nicht weiter als zu sagen, dass sie mich in erster Instanz an den Ruf eines Pfauen erinnert.
Ein heiserer Ruf, in weitaus höherer Tonlage als der Schrei eines Panthers, aber doch die "Melodie", die Tonart. Sie gleicht überhaupt nicht der Stimme der Hauskatzen.

Also diesen Schrei stieß sie aus, stürzte sich auf den Teller mit Fleisch, biss in den Rand, sprang mit allen vier Pfoten auf den Teller, ergriff eins der Fleischstückchen und rannte damit quer durchs Zimmer unter einen Schrank. Dieses Schauspiel wiederholte sich, bis der Teller leer war. Danach legte sie sich in unseren Bücherschrank und schlief lange.

Am Abend war Familienrat. Wir waren uns einig, dass am nächsten Tag ein Tierarzt kommen müsste und zwar nicht der, der unsere Hauskatzen geimpft hatte, sondern einer, der auch die Tiere im Zoologischen Garten betreute. Er würde das Kätzchen impfen müssen, uns Ratschläge für die Versorgung geben und auch wohl sagen können, was für ein Tier das überhaupt sei.

Der Tierarzt kam auch. Er sagte, dass wir nur weiter rohes Fleisch mit Vitaminen füttern sollten, kam zu dem Schluss, daß das Tierchen wohl eine junge Margay sei und fand sie noch zu jung, um geimpft zu werden. - Damit hatte er unserem Kätzchen schon das Todesurteil ausgesprochen.

Viel später erwies sich übrigens auch seine Bestimmung der Katze als falsch. Es war eine Kleinfleckkatze (Leopardus geoffroyi) die uns ins Haus geschneit war. Aber den Namen hatten wir damals noch nie gehört. Der Zoo-Tierarzt scheinbar auch nicht.

Vorläufig war alles noch eitel Sonnenschein.

Der Name Margay gefiel uns so gut, dass wir ihn zum Rufnamen der Kleinen machten und sie gewöhnte sich bald an ihren Namen, den sie wohl mit Futter assoziierte. Am zweiten Tage lief sie schon hinter mir her, am dritten wagte ich es, sie mit den anderen Katzen bekannt zu machen.
Es war ein Riesenerfolg. Sie lief auf die Hauskatzen zu, beschnüffelte sie und stieß dabei wieder diesen merkwürdigen Schrei aus. Für uns sah es ganz so aus, als ob sie unter ihnen nach ihrer Mutter suchte. Eine Ersatzmutter fand sie dann in Kater Jantje, der sie sofort liebevoll betreute.
Er leckte sie, spielte mit ihr, ließ sie zwischen seinen Pfoten schlafen. Beim Spielen gab es ab und zu einmal einen Schrei, denn die Kleine hatte weitaus schärfere Nägel und Zähne als eine Hauskatze. Aber sehr schnell hatte sie begriffen was erlaubt war und was sie besser unterlassen könnte. Nach ein paar Tagen hielt sie ihre Zähne und Nägel unter Kontrolle.

Überhaupt lernte sie alles in einem unglaublich schnellen Tempo. Uns erstaunte das damals. Erst viel später, als in unserem Hause eine Oncilla-Kinderstube war, erkannten wir, wie ungeheuer diszipliniert junge Wildkatzen erzogen werden, eine Maßregel, die wohl zum Überleben im Urwald eine absolute Notwendigkeit ist.

Ihre Intelligenz war bedeutend größer, als die einer Hauskatze. Als sie eine Woche bei uns war, wußte sie alles, was eine "anständige" Hauskatze wissen muss. Bei den meisten Dingen imitierte sie einfach die anderen Katzen. Sie konnte von einem Tellerchen fressen, ohne erst in den Rand zu beißen, passte sich dem Tag- und Nachtrhythmus an, ging sogar - und das war wirklich sehr bemerkenswert - auf das Katzenklo, spielte mit einem Tischtennisbällchen und sah vor allem uns Menschen nicht mehr als ihre Feinde, sondern wohl als etwas komische Mit-Tiere.

Sehr auffallend war ihr Geruchssinn. Es ist mir ein paar mal passiert, dass ich in der Küche das Fleisch für die Katzen geschnitten hatte und danach ins Zimmer kam, um noch etwas zu holen, die Vitamintropfen oder ein Tellerchen. Noch aus der entferntesten Ecke kam sie dann angerannt, kletterte an meinen Strümpfen, meinen Kleidern hoch und biss in die Hand, mit der ich das Fleisch angefasst hatte. Im Anfang biss sie dabei recht fest zu, später, als sie gelernt hatte, dass sie vorsichtig sein musste, nur ganz zart und dann leckte sie meine Finger.

Erstaunlich war auch ihre Schnelligkeit und ihr Reaktionsvermögen. Nachdem sie ein paar Tage bei uns war, hatte sie sich angewöhnt, auf unseren Schoß zu klettern und dort laut spinnend einzuschlafen. Das tat sie auch einmal, als wir zu Tisch saßen. Dem Anschein nach lag sie in tiefem Schlaf und völlig regungslos auf meinem Schoß. Dann, auf einmal, im Bruchteil einer Sekunde, so schien es, schoss sie wie ein Blitzstrahl über den Tisch und saß im nächsten Augenblick in der Ecke des Zimmers mit ihrer Beute: der Bockwurst, die noch ein paar Augenblicke zuvor auf dem Teller meiner Tochter gelegen hatte!

Auch ihr Anpassungsvermögen war bemerkenswert. Schon am dritten Tag ihres Aufenthalts bei uns, an dem Tage an dem sie die anderen Katzen kennen gelernt hatte, lief sie der Gruppe nach, die, der Gewohnheit gemäß, ihr Abendfutter in dem geräumigen Badezimmer bekam, wo die Katzen auch ihre Schlafkörbchen für die Nacht hatten. Dort nestelte sie sich mit Jantje in ein Körbchen.

In unserer Familie habe ich den Ruf, eine Art Weihnachtsfanatiker zu sein. Ein paar Wochen vor dem Fest beginnen schon die Vorbereitungen und zum Fest ist das ganze Haus mit Tannengrün und Kerzen geschmückt. Die Weihnachtskarten hängen an einer langen Leine im Wohnzimmer. Diese Gewohnheit aus meiner Jugend hatte ich mit nach Holland genommen, als ich dorthin übersiedelte, obschon zu der Zeit Weihnachten in Holland noch mehr ein religiöses Fest war als ein fröhliches Familienfest. Heute ist das holländische Weihnachtsfest kaum noch vom deutschen zu unterscheiden. Aber die Geschenke bekommt man noch immer nicht zu Weihnachten sondern am 5. Dezember vom Nikolaus. Nun, zum Nikolaus hatten wir das allerschönste Geschenk bekommen: unser "Margaytje" und zu Weihnachten war sie der Mittelpunkt des Festes. Alles hatte ihre Aufmerksamkeit. Der Weihnachtsbaum war ein einziges Abenteuer. Zum Glück habe ich noch ein paar Fotos aus jenen Tagen.

Gleich nach Weihnachten wurde Margaytje krank. Sie wollte nichts mehr fressen und lag lustlos in ihrem Körbchen. Der Tierarzt kam und schüttelte den Kopf: "Vielleicht hätten wir sie doch impfen sollen." sagte er. Er gab mir ein paar Tabletten, die ich ihr eingeben musste und hatte Eile wieder fort zu kommen. Ich hätte ihn ermorden können, wenn ich nur gewusst hätte, wie man so etwas macht und wenn es geholfen hätte.

Krampfhaft suchten wir noch nach Hilfe. Mein Mann rief beim Tiergarten Artis in Amsterdam an, dem damals größten holländischen Zoo. Aber dort gab man sich zurückhaltend. Wildtiere gehörten nun einmal nicht in Privathände und übrigens sei da der Tierarzt zuständig.

Irgend jemand gab uns die Adresse von Herrn Professor Leyhausen vom Max-Planck-Institut in Wuppertal. Ich rief ihn an und er war hilfsbereit und freundlich. Viel Trost konnte er uns allerdings nicht geben. "Wenn die kleine Katze die Katzenseuche hat, wird es wohl kein Mittel geben, sie zu retten. Grade gegen Katzenseuche sind diese Wildkatzen außerordentlich empfindlich. Aber wenn es sich um eine Verdauungsstörung handelt, dann rate ich ihnen dringend, ihr eine schlachtwarme Taube zu besorgen. Tauben sind das ideale Futter für Wildkatzen."

Wo findet man in einer Stadt eine schlachtwarme Taube? Mein Mann fand schließlich ein Geflügelgeschäft, das Tauben verkaufte. Schlachtwarm war die Taube nicht, die er mit nach Hause brachte, aber es war immerhin eine Taube. Ein kleines Stückchen Taubenfleisch war das Einzige, das noch ein wenig Interesse bei unserem Margaytje erwecken konnte. Aber das kleine Häppchen, das sie gefressen hatte, brach sie gleich wieder aus. Mit dem Köpfchen hing sie über der Wasserschüssel und konnte doch nicht trinken. Fünf Tage hat sie so gelitten und wir mit ihr. Dann war sie tot und meine Welt, der sie einen exotischen Glanz verliehen hatte, war leer und sinnlos. So verängstigt war sie gewesen und so schnell hatte sie uns ihr Vertrauen geschenkt und damit unsere Liebe gewonnen. Ich konnte es nicht fassen, dass das alles vorbei sein sollte.

Einmal früher hatte ich in meinem Leben eine solche Verzweiflung gefühlt. Ich weiß es noch, als ob es gestern gewesen wäre. Meine erste Katze.... Ich hatte sie gefunden, als ich etwa zehn Jahre alt war. Es war ein kleines, halb verhungertes Tierchen, das ich auf dem Schulweg fand. Ich nahm es auf, brachte es schnell nach Hause: "Bitte bewahrt es, wenigstens bis ich aus der Schule komme!"

Am Mittag hatte "Pussy" sich dann schon in den Arm meiner Mutter genestelt, die krank war und im Rollstuhl saß. Natürlich durfte das Kätzchen bleiben. Es war ein liebes, anhängliches Tierchen, das seine Zuneigung ehrlich zwischen meiner Mutter und den anderen Familienmitgliedern teilte. Es war Anfang der dreißiger Jahre und wir wussten noch nichts von Kastration und Impfung gegen Katzenseuche. Als "Pussy" zu einem stattlichen Kater heranwuchs, zog es ihn ab und zu nach draußen, wir mussten ihn hinauslassen. Eines Tages kam er zurück und war krank. Damals dachten wir, dass er vergiftet sei. Es kann so gewesen sein. Es gab nicht nur katzenfreundliche Leute in der Nachbarschaft. Aber vielleicht hatte er auch die Katzenseuche. Ich weiß nur noch, dass er nach drei traurigen Tagen starb. Es war meine erste Begegnung mit dem Tod und ich konnte und wollte das nicht akzeptieren. Pussy hatte doch grade noch gelebt, das konnte doch nicht einfach vorbei sein!

- Haben wir das nicht alle ein wenig, auch wenn wir älter sind und längst die Realität des Todes erfahren haben? Dieses "Nein", wenn wir hören, dass jemand gestorben ist? Ich denke, dass meine Familie es damals nicht leicht mit mir gehabt hat.

Als man mir dann erklärte, dass meine Pussy begraben werden sollte, habe ich mich gewehrt, gekämpft. Das konnte man nicht tun, meine Pussy unter die Erde stecken, das ging nicht!

Auf meinem Schulweg kam ich jeden Tag an einer Kürschnerei vorbei. Dort hatte ich oft vor dem Schaufenster gestanden. Ein ausgestopfter Fuchs stand da und ein Eichhörnchen und viele Vögel. Wenn meine Pussy nicht mehr leben konnte, dann sollte sie wenigstens so erhalten bleiben, wie diese Tiere, dann würde ich sie immer noch streicheln können.

Ich hatte sehr gütige Erzieher. Pussy wurde in einen Pappkasten gelegt und ich durfte sie zum Kürschner bringen. Der sagte, dass ich in drei Wochen zurück kommen solle und Pussy abholen.

Es verging eine lange Zeit, weit mehr als drei Wochen. Ich fürchtete mich vor dem Wiedersehen. Irgendwas stimmte nicht mit meinem Plan, das fühlte ich und wusste nicht, was es war. Dann musste ich endlich zum Kürschner. Der nahm das Geld an und gab mir ein Päckchen. Aufsetzen hätte er die Katze nicht können, dazu sei das Fell zu schlecht gewesen, weil sie wohl krank gewesen sei. Aber er habe das Fell präpariert. Das war wohl aufgerollt in dem Päckchen, das er mir gab.

Zu meinem Zimmer gehörte ein Erker und darin stand ein etwas abgedanktes Sofa, auf dem durfte ich spielen. In jeder Ecke lag ein Kissen. Unter eins der Kissen stopfte ich das ungeöffnete Päckchen und saß fortan in der anderen Ecke. Wochen später erst traute ich mich, einmal vorsichtig unter das Kissen zu sehen: das Päckchen war fort ...

Jetzt war es 1961. Ich war eine erwachsene Frau, die den Krieg erlebt hatte mit allen seinen Schrecken und dem großen Sterben. Aber dieses "Nein" dem Tode gegenüber, diese Auflehnung gegen das "Niemals wieder", die war auf einmal wieder da. Und wieder ging ich zum Kürschner. Diesmal konnte das Tierchen aufgesetzt werden und wieder einmal musste ich erkennen, dass man den Tod nicht überlisten kann. Das Fell war gut, aber das Köpfchen war nicht im entferntesten das Gesichtchen von unserer kleinen Margaytje. Ich stellte sie mit dem Kopf zur Wand in einen offenen Bücherschrank und dort hat sie wie eine Reliquie bis zu unserem Umzug nach Ingen, gestanden. Beim Umzug ist sie dann irgendwie verloren gegangen, aber zu der Zeit hatten wir auch schon unsere ganze Wildkatzenfamilie.

Denn die Geschichte fängt jetzt erst richtig an.

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